Seelenhüter
fragte er: »Hebt das meine Sünden auf?«
Ein neuer Gedanke erschütterte den Seelenhüter: Stellte der Captain ihn etwa auf die Probe?
»Ich fragte, werden mir meine Sünden vergeben?«
Der Captain würde einen Begleiter nicht hinters Licht führen – Calder hatte nie auch nur darüber reden hören in über dreihundert Jahren. Wenn es kein Test war, musste es sich um ein Zeichen handeln.
»Sprich zu mir, Engel«, verlangte der Mann. »Bin ich so erbärmlich, dass du meinen Anblick nicht erträgst?«
Calder wollte ruhig bleiben, doch seine Stimme zitterte vor Angst. »Du dientest dem Zar als Priester?«, fragte er.
»Und als Heiler«, ergänzte der Mann. »Ebenso wie als Prophet. Die Blutungen des Jungen hörten bei der Berührung durch meine Hand oder durch den Klang meiner Stimme auf. Ich sagte die Geburt des Jungen voraus und den Großen Krieg.«
»Du warst willkommen bei den Romanows?«, fragte Calder.
»Ich kam und ging wie ein Familienmitglied«, brüstete sich der Mann. »Jeder in Sankt Petersburg kannte mich. Ich dinierte mit Generälen und Königen«, fuhr er fort, »und sprach bei ihren Töchtern vor. Manchmal sogar bei ihren Ehefrauen!« Er lachte laut auf, war jedoch unzufrieden mit Calders Schweigen. »Warum lässt du mich hier stehen?« Er lief gestikulierend den Korridor entlang. »Ich möchte mehr sehen.«
Ein seltsamer, schrecklicher Gedanke kam Calder, so eigenartig, dass er nicht von ihm selbst stammen konnte. »Möchtest du die Geisterwelt sehen?«, fragte er.
Der Mann zeigte anklagend mit dem Finger auf ihn. »Ich wusste, dass da noch mehr ist, was du vor mir verbergen wolltest.« Er grinste. »Natürlich. Zeig mir alles.«
»Das bedeutet allerdings, den Himmel warten zu lassen.«
Zum ersten Mal wirkte der Mann misstrauisch. »Das ist doch kein Trick, um mich in die Hölle zu schicken, oder?«
»Es gibt keine Hölle«, erwiderte Calder ruhig.
Das war nicht ganz richtig. Die Menschen können sehr wohl eine Hölle auf Erden erschaffen – es ist Teil des freien Willens. Dann gibt es da noch die Zelle: Wenn eine Seele sich selbst nicht verzeihen kann, muss sie in der Zelle bleiben, bis ihr Vergebung möglich ist, egal wie lange es dauert. Nicht zuletzt existierte auch noch der Ort zwischen dem Tod und der Passage. Jedes Mal, wenn eine Todestür aufgeht, liegt das Universum offen und verwundbar da. Ganz selten entkommt eine verwirrte Seele ihrem Begleiter und flieht durch den Riss zwischen den Welten in das Land der verlorenen Seelen, wo sie die Lebenden zwar sehen, jedoch nicht mit ihnen kommunizieren kann.
Calder hatte noch nie eine Seele entkommen lassen, doch einer seiner Kameraden hatte schon drei verloren. Jedes Mal hatte er sie verfolgt und wieder zurückgebracht, doch er berichtete Calder, er habe auf der Suche nach seinen Schützlingen viele umherwandernde Seelen gesehen – manche waren versteinert, manche verwirrt oder ärgerlich, einige wenige spielten. Für die meisten sei es die Hölle, wenn auch nicht für alle. Calder versuchte sich diese besondere Szenerie vor Augen zu führen, wie die verlorenen Seelen außerhalb des Lebens herumtollten.
»Ich werde dir drei Erdennächte in Freiheit in der Geisterwelt gewähren«, sagte Calder. »Dafür werde ich drei Nächte auf der Erde verbringen.«
»Ein Handel?« Misstrauen verdunkelte die stechenden Augen, doch der Mann streckte die Hand aus, als akzeptiere er die Bedingungen.
»Ein Handel«, stimmte der Seelenhüter zu.
Er umfasste die Hand des Mannes und führte ihn den Weg zurück, den sie gekommen waren. Allerdings hatte er Bedenken, als bei ihrem Gang über die Passage alles um sie herum verschwamm wie ein Spiegelbild im Wasser. Calder hatte noch nie versucht, durch den Korridor zurückzugehen. Der Garten verdunkelte sich unter dem wolkenbedeckten Himmel, die Nachrichten und Bilder in der Galerie wurden von der Wand gerissen und fegten ihnen wie weiße Blätter um die Füße. Ein Wirbelwind kam vom anderen Ende des Korridors auf sie zu.
»Wohin gehen wir?«, fragte der Mann.
»Zurück zu deinem Körper«, antwortete Calder möglichst sachlich.
»Werde ich ihn denn brauchen?«
»Du nicht«, sagte der Begleiter, »aber ich.«
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Teil II
Die Welt der Lebenden
5.
W
enn ich das, was ich gerade versuche, nicht tun soll,
sprach sich Calder selbst Mut zu,
dann wird es mir auch nicht gelingen.
Der bärtige Mann beobachtete den Seelenhüter neugierig, als sie an der Stelle vorbeigingen, an der das Festmahl
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