Seelenhüter
sollte. Nichts und alles. Es war kein tatsächlich existierender Gang aus Mauerwerk und Stein.
»Gibt es Tag und Nacht hier?«, fragte der Mann weiter. »Ich würde gern nach draußen sehen.«
Calder folgte ihm, bis sie das Festmahl erreichten. Die eine Wand verwandelte sich in große Fenster, die sich öffneten und den Blick auf einen großen Raum freigaben. Dort saßen Menschen aller Schichten und Ränge an einem großen Tisch, Bauern in Lumpen ebenso wie in edle Stoffe gewandete, mit Diamanten behängte Adelige, und unterhielten sich fröhlich miteinander.
Calder widmete dem Festmahl nie viel Aufmerksamkeit – schließlich war es für die Seele bestimmt. Doch in dieser Szenerie bemerkte er etwas, das ihn aus der Fassung brachte. Am äußersten Ende des riesigen Tisches saßen sieben Gestalten in Weiß beieinander – ein Mann mit einem kurzen Bart, eine Frau mit rotblondem Haar und abgewandtem Gesicht, vier junge Mädchen, die zu weit entfernt waren, um sie klar sehen zu können, und ein Junge.
Verzweifelt versuchte Calder, einen genaueren Blick auf sie zu erhaschen, doch die anderen Gäste versperrten ihm die Sicht.
Der Mann war sichtlich zufrieden mit dem Festmahl und zwinkerte seinem Begleiter zu, als sie weitergingen. »Ich kenne jeden Gast bei diesem Mahl«, erklärte er. »Essen und trinken wir im Himmel?«
Calder ermüdeten diese Fragen, er war zu erschöpft, um darauf zu antworten.
Als die Galerie erschien, verlangsamte der Mann seine Schritte. Die Wand zur Linken war mit beschriebenen Papierfetzen bedeckt, die man nachlässig befestigt hatte und die wie wütende Heuschrecken flatterten. Der Mann las einige und versuchte, sie ruhig zu halten. Es waren zumeist handgeschriebene Notizen, immer mit demselben Text auf Russisch:
Mein lieber und geschätzter Freund, tut dies für mich.
Gleich daneben hingen mehrere Kopien ein und derselben Zeichnung – ein großer, bärtiger Mann mit wildem schwarzem Haar, auf dessen Schoß eine nackte Frau saß, die wie eine Königin eine juwelenbesetzte Krone trug. Der Mann drehte der Wand den Rücken zu, tränenüberströmt, und murmelte etwas, das Calder nicht verstand.
Schließlich ging der Mann schweren Schrittes weiter. Zumindest für den Moment schien er keine weiteren Fragen zu haben. Zur Rechten öffneten die Wände der Passage sich jetzt zu einem großen Bogen, der in einen weitläufigen Garten führte. Blumen, Obstbäume, Spaliere mit Kletterblumen und Weinranken standen um einen kleinen Fischteich, auf dessen Oberfläche Wasserlilien tanzten.
Der Mann legte bei diesem Anblick eine Hand aufs Herz und lächelte. »Es war nicht alles Sünde«, sagte er. »Ich habe auch Gottes Werk getan.« Ein Zwinkern brannte in seinen dunklen Augen. »Ich war ein Heiler.« Er beugte sich näher zu Calder. »Ich habe das Leben des Zarewitsch Alexis gerettet.«
Der Mann setzte seinen Gang über den Korridor fort, doch Calder war zu überrascht, um ihm zu folgen.
»Hast du gerade Alexis gesagt?«
»Matuschka vertraute allein mir«, erwiderte der Mann.
»Wer ist Alexis?«, verlangte Calder zu wissen.
Der andere lachte dröhnend. »Der Sohn des Zaren. Du kennst doch sicher die Herrscher von Russland.«
Das Kind, das hatte sterben wollen, hatte Russisch gesprochen. Glory zweimal zu sehen hatte Calder aus der Fassung gebracht – dieses neue Wunder, wenn es denn eines war, verwirrte ihn. Ihm fehlten die Worte für eine Antwort, daher starrte er den Mann nur bewegungslos an.
Dieser lächelte ihm neugierig zu. »Wissen Engel so wenig von der Welt?«
»Alexis hat vier Schwestern«, erwiderte Calder. »Er blutete innerlich.«
»Ja.« Ein erschrockener Ausdruck erschien auf dem Gesicht des Mannes, als ob er glaubte, das Kräfteverhältnis habe sich gewandelt und er sei diesem Engel jetzt auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
»Wie heißt er?«, fragte Calder.
»Eine seltsame Frage von jemandem wie dir.« Er schüttelte den Kopf über Calder. »Romanow.«
Calder stellte sich den Namen geschrieben vor:
Alexis Romanow.
»Nikolaus II . ist einer der mächtigsten Männer der Welt – er und seine Frau Alexandra küssten meine Hand und knieten gemeinsam mit mir zum Gebet. Warum wohl?«
Calder wusste keine Antwort darauf – er lauschte immer noch dem Namen des Jungen in seinem Kopf. Alexis Romanow, Sohn des Zaren, und Glory war seine Kinderfrau.
»Ich habe den Erben des russischen Throns gerettet.« Der Mann wartete auf Calders Reaktion, doch als diese nicht erfolgte,
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