Seelenhüter
ihr.
Ana führte ihn in ein Studierzimmer, in dem ein kleiner Tisch neben einem kalten und leeren Kamin stand. Sie schloss die Tür und begann zu sprechen, ohne ihm einen Stuhl anzubieten.
»Ich weiß, dass Sie nicht der sind, der Sie vorgeben zu sein.« Sie verschränkte die Arme, wie auf der Hut, doch vielleicht war es auch nur ein Zeichen von Entschlusskraft.
»Warum sagst du das?«, fragte er, obwohl er die Antwort gar nicht hören wollte. »Wer bin ich denn der Meinung deiner Schwestern nach? Was sagt deine Mutter, wenn sie von mir spricht?«
»Sind Sie also Grigori Rasputin?«
»Wer sonst sollte ich sein?« Das war ausweichend und ungerecht, doch das Kind machte ihn nervös.
»Wenn Sie Vater Grigori sind«, sagte das Mädchen, »dann erzählen Sie mir von Ihrem Leben. Wo wurden Sie geboren? Haben Sie tatsächlich all die Sünden begangen, die man Ihnen nachsagt?« Ihre Wangen waren vor Zorn gerötet.
»Ja, natürlich.«
»Sie lügen.«
Diese Antwort war schockierend, aber er konnte Ana nicht verdenken, dass sie scharfsinnig war. »Warum, Kind, sollte ich das tun?« Er hoffte, nach Rasputin zu klingen, indem er sie »Kind« nannte.
Statt sie zu beruhigen, stachelte er sie nur weiter an. »Erinnern Sie sich an Ihre Kindheit, Grigori Rasputin? Wie lautete der Name Ihrer Mutter? Hat sie Sie in den Schlaf gesungen? Haben Sie diesen als ersten Zahn verloren oder diesen hier?« Sie deutete auf ihre beiden Schneidezähne.
Calder hatte sich versucht zu wappnen, doch jetzt erkannte er, dass Ana gar nicht auf Antworten aus war. Sie zählte all die menschlichen Details auf, von denen sie bereits wusste, dass er keine Erinnerung daran hatte.
»Ich weiß, wer Sie wirklich sind«, sagte sie schließlich.
»Wer denn?«
»Sie waren am Totenbett meines Bruders«, erklärte sie. »Zweimal.« Ihr Gesicht zeigte nun wieder den elfenhaften Ausdruck, und ihre rechte Augenbraue hob sich. »Ich war drei. Keiner hat mir geglaubt.«
»Du denkst, ich sei ein Geisterarzt«, sagte Calder so ausdruckslos wie möglich.
»Nein.« Sie schien ein wenig unsicher zu werden. »Sie sind eher so etwas wie ein Engel, oder?«
Calder schwieg.
»Ich sage Mutter nur deshalb nichts davon, weil ich spüre«, sie wählte ihre Worte mit Bedacht, »dass Sie von Gott kommen.«
Er wusste, was sie damit ausdrücken wollte: Wenn er aus dem Himmel käme, dann würde seine Anwesenheit keine Bedrohung darstellen, vor der ihre Mutter gewarnt werden müsste. Calder nickte zustimmend.
»Warum sind Sie hier?«, fragte Ana.
Das Mädchen schien das Zweite Gesicht zu haben, daher entschied er sich, so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. »Ich bin wegen deiner Mutter gekommen.«
»Vorher waren Sie da, um meinem Bruder zu helfen«, bemerkte Ana. »Ist meine Mutter krank?«
»Nein.«
»Wo ist Vater Grigori?«
Das war eine schwierigere Frage. Er wollte ihr auf keinen Fall erklären, was es mit dem Land der verlorenen Seelen auf sich hatte. »Er ist in meiner Welt.« Das war immerhin keine Lüge, wenn auch nicht die exakte Wahrheit.
»Schwören Sie, dass Sie uns kein Leid antun werden?«
Calder zögerte, nicht, weil er tatsächlich Böses im Schilde führte, sondern weil er fürchtete, dies bereits getan zu haben. Er erinnerte sich, wie Alexis mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hand nach ihm ausgestreckt hatte. Er hatte der Zarin zwar ihren Sohn zurückgegeben, aber er hatte nicht die Entscheidung des Jungen befolgt.
»Ich bin in guter Absicht hier.«
»Das ist nicht dasselbe«, bemerkte sie.
Calder schämte sich. Sie war so direkt und er so trügerisch.
Ana deutete sein Zögern falsch. »Können Sie gar nichts Böses tun?«
Er konnte es nicht ertragen, diese Frage wahrheitsgemäß zu beantworten.
»Dürfen Sie keinen Eid vor mir schwören?« Ihr Ton war sanfter geworden. Sie ließ die Arme hängen und betrachtete sein Gesicht.
»Wir haben Gebote, aber die wurden im Himmel abgelegt.«
Er hoffte, diese undurchsichtige Antwort würde sie zufriedenstellen. Doch sie blickte ihm immer noch forschend in die Augen, vielleicht auf der Suche nach einem engelhaften Schimmern.
»Ich werde dich nicht mehr ›Vater‹ nennen«, sagte sie geradeheraus. »Du bist kaum älter als ich, oder?«
Calder war schockiert. Sie konnte tatsächlich ihn sehen und nicht Rasputins Körper und Gesicht. »Ich wurde vor beinahe vier Jahrhunderten geboren.« Eine kleine Übertreibung.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf, auf ihre Einschätzung vertrauend. »Wie alt
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