Seelenhüter
schon getrunken?« Sie war blass, hatte dunkles Haar und besorgte Augen.
Calder wollte ihr schon sagen, dass er gar nichts getrunken hatte, doch dann erkannte er, dass dies eine gute Ausrede wäre, um allein gelassen zu werden. Maria blickte an ihm vorbei auf das umgestellte Schlafzimmer. Er erwartete eine Bemerkung, doch sie seufzte bloß und sagte: »Ich mache dir etwas zu essen.«
»Danke, nein«, erwiderte Calder rasch. »Ich möchte schlafen.« Damit zog er sich wieder in den kargen Raum zurück und setzte sich auf das Bett.
Er fühlte sich erbärmlich, als er zuhörte, wie die junge Frau in der Küche hantierte. Nachdem die Dunkelheit hereingebrochen war und die Straßen verstummt waren, als er keine Schritte und kein Stühlerücken mehr im Nebenraum hörte, versuchte er erneut zu beten. Er kniete sich auf den nackten Holzboden, die Augen auf das schwache Licht gerichtet, das durchs Fenster drang, und flüsterte seine Gebote. Rasputins Tochter sollte ihn nicht hören, weshalb er »Die sanfte Überfahrt« so leise sang, dass sein eigener Herzschlag den Psalm übertönte.
Mein Captain,
flehte er,
bitte hilf mir.
Keine Antwort. Er war allein.
Nur warum hörte er dann leises Atmen, selbst wenn er die Luft anhielt? Das Geräusch war zu nahe, um von Rasputins Tochter zu kommen. Ein schwaches Zischen und Seufzen ertönte – zwei Atemzüge, dann Stille.
»Kannst du mich hören?«, flüsterte Calder.
Ein kaum wahrnehmbares Murmeln war die Antwort.
»Captain?« Calder wartete. »Wer ist da?«
Aus dem Schrank ertönte ein winziges Knacken, wie von einem Schaukelstuhl für Mäuse. Calder kroch darauf zu und lüftete das Bettlaken. Langsam öffnete er die Tür und blickte auf die sanft hin und her schwingenden Tuniken und Hosen. Als er die Atemzüge von hinten vernahm, ließ Calder das Laken fallen und suchte alles mit den Augen ab.
Leise Schläge waren zu hören, als ob eine unsichtbare Motte durch das Schlafzimmer flatterte – einmal am Fenster, dann an der Decke, am Boden, in der Kommode, an der Tür, aus dem Inneren des Schrankes –, und dann Stille.
Calder schnappte erschrocken nach Luft und setzte sich aufs Bett, um nachzudenken. Er konnte sich nicht erinnern, sich hingelegt zu haben oder eingeschlafen zu sein, doch dann weckte ihn eine Stimme.
»Kannst du mich hören?« Die Stimme eines Mannes, tief und vertraut. Nicht der Captain. »Eskorte!«
Der Seelenhüter blickte in ein Paar glühende Augen. Rasputin stand breit grinsend am Bettende, die Hände in die Hüften gestemmt. Kein Zweifel, es handelte sich um Grigori Rasputin. Calder griff sich an die Brust, doch er befand sich immer noch in Rasputins Körper, lag auf seinem Bett.
»Ich habe versucht, deine Aufmerksamkeit zu erregen, als du wach warst«, sagte Rasputin. »Es ist nicht leicht, von den Lebenden gehört oder gesehen zu werden.«
Calder setzte sich auf, erleichtert, den Geistlichen zu sehen, doch etwas irritierte ihn.
Rasputin sprang auf den Boden. »Ich muss mich mehr anstrengen.« Er lachte. »Man muss es wohl üben.«
»Träume ich?«, fragte Calder.
»Nein«, erwiderte Rasputin. »Du schläfst, aber du träumst nicht. Wenn du träumtest, würde ich all das sagen, was du mich lässt oder fürchtest, was ich sagen könnte.«
Calder erkannte nun, was ihn irritiert hatte: Rasputins Schlafzimmer war zwar stabil genug, um darin zu stehen, doch ansonsten durchsichtig. Er konnte durch den Boden auf die darunterliegende Wohnung blicken, wo ein Ehepaar schlafend im Bett lag. Durch die Wand sah er Maria in ihrem Bett oder die leere Straße unter ihnen, und selbst den Mond nahm er durch die Decke wahr, ein schwacher Schein am wolkenverhangenen Nachthimmel.
»Du schläfst, doch ich bin kein Traum«, wiederholte Rasputin. »Das ist der einzige Weg, auf dem ich zu dir durchdringen kann.« Zu Calders Unbehagen setzte sich Rasputin auf das Fensterbrett, so dass sein Körper halb im Raum und halb im Freien war. »Mein alter Körper muss natürlich nicht schlafen«, sagte Rasputin. »Nur dein Geist muss von Zeit zu Zeit ruhen.«
»Ich freue mich, dich zu sehen«, sagte Calder. »Wir müssen jetzt in den Himmel zurückkehren.«
»Ich bin nicht bereit zu gehen«, antwortete Rasputin. »Ich finde den Ort, an den du mich geschickt hast, überaus interessant.«
Calder fragte sich, ob der Geistliche, der freiwillig ins Land der verlorenen Seelen gekommen war, stärker war als die tatsächlichen Verlorenen. »Hast du andere Seelen gesehen?«,
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