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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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bist du? Achtzehn? Neunzehn?« Sie verschränkte wieder die Arme. »Noch keine zwanzig.«
    Calder fühlte sich gedemütigt, schwieg jedoch dazu.
    »Wie soll ich dich dann nennen?«, fragte sie. »Hast du einen Namen?«
    Calder zögerte.
    »Sag mir, wie du wirklich heißt«, forderte sie ihn auf. »Ich verspreche, es niemandem zu erzählen.«
    »Wirst du deinem Bruder sagen, dass ich nichts Böses im Sinn habe?«
    Ana lächelte, als ob sie sein Verhandlungsgeschick respektierte. »Wir werden beide dein Geheimnis bewahren.«
    »Mein Name ist Calder«, antwortete er.
    »Calder?« Sie schien enttäuscht. »Das klingt so normal. Was bedeutet es?«
    Als Lebender hatte er es nicht gewusst, doch ein anderer Begleiter hatte es ihm erzählt. »Es bedeutet ›Fluss der Steine‹.«
    »Irgendetwas stimmt nicht mit dir«, bemerkte sie ernst. Etwas in seinen Augen beunruhigte sie. Calders Haut prickelte. »Du verschweigst mir etwas.«
    Das Mädchen war unheimlich.
    »Du bist einsam«, sagte sie. »Es muss schwer sein, das die ganze Zeit zu verbergen.«
    Eine tiefe Trauer überwältigte ihn wie eine Welle.
    »Hab keine Angst«, fuhr sie fort. »Jeder hat ein Geheimnis. Ich werde deins bewahren.« Ihre Stimme klang nun freundlich. »Wir alle geben vor, etwas zu sein, was wir nicht sind.« Sie schien sich sein Schweigen zu Herzen zu nehmen und fürchtete, seine Gefühle verletzt zu haben. »Ich bin nicht wie meine Schwestern. Ich kümmere mich gar nicht erst darum, anmutig zu erscheinen, und ernst bin ich auch nicht.« Sie lächelte wieder. »Ich kann nicht zart und hübsch sein, also bin ich lustig. Ich kann nicht ehrerbietig sein, also bin ich frech. So überlebe ich«, erklärte sie.
    »Sind die anderen gegen dich?«, fragte Calder.
    Sie dachte einen Moment lang nach. »Nicht bewusst. Ich will für mein wahres Ich gekannt werden«, sagte sie, »nicht für das, was meine Mutter sich für mich gewünscht hat. Vor meiner Geburt beteten meine Eltern um einen Jungen. Marie hat es mir erzählt. Wie schön wäre die Welt, wenn jeder ohne Widerspruch akzeptiert würde.«
    Sie war entwaffnend. Die Luft veränderte sich. Ob sie es beabsichtigt hatte oder nicht, mit ihrem Geständnis hatte sie zwischen ihnen ein Gleichgewicht geschaffen. Calder lächelte, zum ersten Mal entspannt in ihrer Gegenwart. »An dir ist nichts, was ich ändern würde«, sagte er.
    Sie errötete. »Ein Waffenstillstand also.«
    Sie streckte die Hand aus, und er ergriff sie. Ihre Handfläche war klein und warm, ihre Finger zart und dennoch stark. Sie schüttelten sich die Hände.
    Ana wandte sich zum Gehen, genauso unvermittelt wie bei ihrer ersten Begegnung. Doch dieses Mal wirbelte sie noch einmal herum und schenkte ihm ein unerwartetes Lächeln, ehe sie verschwand.

9.
    A ls Calder die Außentreppe hinunterging, hielt ihm ein Bediensteter die Wagentür auf. Der Fahrer schwieg während der Fahrt zurück in die Stadt, warf seinem Passagier allerdings mehrmals einen Blick über den Rückspiegel zu. Calder rutschte ein wenig tiefer in den Sitz, um den Blicken auszuweichen. Er beobachtete die Welt durch das Seitenfenster: den Himmel, die Baumkronen, die schneebedeckten Häuser. Er hörte das Jaulen von Hunden und in einiger Entfernung den Schrei einer Frau. Rauch stieg von einem brennenden Dach auf, Flammen leckten aus dem Dachgeschossfenster.
    Calder setzte sich abrupt auf, doch sie fuhren zu schnell – schon waren sie vorbei und passierten einen auf dem Boden liegenden und mit einer Decke verhüllten Körper, neben dem eine weinende Frau kniete und einige Soldaten drei weitere Frauen befragten.
    * * *
    Die beiden Offiziere bei Rasputins Wohnhaus waren durch zwei andere Männer ersetzt worden, doch sie trugen eine ähnliche Uniform. Diesmal warteten weder wütende Ehemänner oder Väter auf ihn, noch Frauen, die nach Unterhaltung suchten, oder jemand, der geheilt werden wollte. Die Scham, seine Gebote gebrochen zu haben, und die Angst, Rasputin könnte für immer im Land der verlorenen Seelen verschwunden sein, lagen drückend wie ein eisernes Joch auf seinen Schultern. Langsam stieg er in den zweiten Stock hinauf, die Beine schwer wie Stein, und zog sich jeden Schritt an dem Holzgeländer empor. Die anderen Wohnungen lagen still da, nur aus einem Zimmer im ersten Stock drang das Geräusch eines Grammofons.
    Es war nicht die Musik des Himmels, das wusste Calder. Irdische Musik, die er durch die Passage gehört hatte, klang mal fröhlich und mal traurig, doch sie war

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