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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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Taverne traf. Ein Lehrling musste an einem Todesschauplatz erwählt werden, er musste entweder der Sterbende sein oder ein besonderer Begleiter. Alexandra! Es bestand immer noch die Chance, dass sie ihn am Lager ihres Sohnes gesehen hatte. Vielleicht war sie tatsächlich die Richtige. Er hatte nur diese eine Möglichkeit. Er musste dringend zurück zu Alexandra und ihr den Schlüssel geben.
    Eisiges Wasser schlug über ihm zusammen und holte ihn in die Gegenwart zurück. Er versuchte, sich zu wehren, und stellte fest, dass seine Arme und Beine gefesselt waren. Er öffnete die Augen in dem düsteren Fluss und kämpfte gegen die Stricke an, bis es ihm gelang, eine Hand zu befreien. Über ihm war das Loch zu erkennen, durch das sie ihn zweifellos im Wasser versenkt hatten. Calder versuchte, auch die andere Hand freizubekommen, doch die Stricke waren aneinander festgefroren. Dunkle Haarsträhnen schwebten vor seinen Augen. Er sank. Seltsamerweise war er nicht überrascht, als er die bleiche Gestalt erblickte.
    Rasputin sah genauso aus wie immer, nur umgab ihn ein Leuchten wie Schaum auf dem mitternächtlichen Ozean. »Engel«, sagte Rasputin. »Ich habe Besucher mitgebracht.«
    Aus der Tiefe des Wassers erschienen schwarze Wolken neben Rasputins Geist.
    Irgendwie hatte Calder das Gefühl, er sollte versuchen, diesen verlorenen Seelen ein Freund zu sein, doch er war zu müde. Wieder schloss er die Augen, und just in dem Moment, als er das Bewusstsein verlor, verwandelte sich der Fluss, und die drei Wolken stoben davon wie verängstigte Fische.
    Der Seelenhüter schrie auf beim Anblick der überwältigenden Transparenz um ihn herum. Das Eis auf der Oberfläche war so klar wie edles Kristall. Alles, was der Fluss mit sich führte, bewegte sich mit der Strömung, doch jedes Objekt, sei es ein Blatt so groß wie Calders Hand oder winzig wie eine Fliege, war durchsichtig wie Glas. Calder konnte von seiner Position aus durch jeden Fisch sehen, und selbst in einer Meile Entfernung, wo der Fluss abbog, konnte er noch durch die Unterwasserbänke hindurchblicken.
    Vergrabene Dinge schienen in der durchsichtigen Erde zu schweben – verfaulende Netze, zerbrochenes Porzellan und in einiger Entfernung mehrere Holzsärge, in denen die bekleideten Knochen der Toten erkennbar waren.
    Die Welt über dem Fluss war genauso sichtbar. Calder blickte durch die komplizierte Konstruktion der Brücke über ihm ebenso wie durch das Fell und die Knochen des darüberlaufenden Hundes. Dieser Sturm an Bildern, von denen sich eines über das andere legte, ließ Calder schwindeln.
    »Konzentrier dich«, forderte ihn Rasputin schroff auf.
    Der Seelenhüter versuchte, sich auf das Blatt zu konzentrieren, das gerade an seinem Gesicht vorbeischwebte, doch Rasputins Worte lenkten ihn ab.
    »Es tut mir leid, dass die anderen nicht mit dir sprechen wollten. Sie behaupten, du bist kein Engel.«
    Auf einmal lag Calder auf einem Bett mit einem Baldachin, der sich nur wenige Zentimeter vor seinem Gesicht befand. Einen Meter darüber schwebte ein derber Teppich aus rauhen Haaren, von dem einzelne Fäden herabhingen. Die Luft schien sich vor unsichtbarem Leben zu winden.
    »Hast du noch mehr Nachrichten für mich?«, fragte Calder.
    »Ich bin doch kein Laufbursche«, erwiderte Rasputin indigniert.
    »Wo bin ich?«
    Doch Rasputin war nirgends zu sehen, und seine Stimme erklang von weit her. »Wach auf und sieh selbst.«
    Riesige Hexenfinger aus Wurzelgeflecht hingen von hoch aufragenden Baumstämmen herab. Bäume? Er starrte auf den Baldachin, der sich in einen Sargdeckel verwandelte. Der Teppich war das Gras über seinem Grab. Die unruhige Luft musste die Erde sein, in der die Würmer umherkrochen.
    »Ich sagte, wach auf«, drängte ihn Rasputin, »bevor dich die Insekten fressen.«
    * * *
    Calder schrie auf, und ein Schwall gelierten Flusswassers schoss aus seiner Kehle. Dann wurde alles schwarz. Er versuchte, sich zu bewegen, doch seine Fäuste und Knie stießen gegen die Holzbretter. Da er sich nicht ernsthaft verletzen konnte, trat und schlug Calder dagegen und ignorierte den Schmerz, bis das Holz um ihn herum splitterte und kleine Erdklumpen in seinen Sarg fielen. Er konnte die Erde riechen und fühlen, als er sich in die Richtung grub, aus der die Brocken auf ihn herabfielen, und schlussfolgerte, dass er so an die Oberfläche kommen musste. Schließlich durchbrach er den Boden, wobei er die Erde in ziegelsteingroßen Stücken um seine Schultern herum

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