Seelenhüter
Rasputins Geist verärgern würden. »Nach der Abdankung gab es große Unruhen in der Stadt. Streiks und Aufstände … überall, nicht nur hier.«
»Wer führt das Land jetzt?«
»Sie sind alle wahnsinnig«, erzählte der alte Mann. »Die Bolschewiken, die Duma.«
»Und Russland befindet sich noch im Krieg?«
»Die ganze Welt bekriegt sich«, antwortete der Mann. »Hier findet die Revolution statt.« Er sah auf einmal ängstlich aus, als fürchtete er, das Falsche gesagt und den Geist aufgebracht zu haben.
Calder fragte: »Vor wie langer Zeit wurde ich getötet?«
»Im Winter war es ein Jahr.«
Alexis dürfte jetzt dreizehn Jahre alt sein,
dachte der Seelenhüter.
Und Ana siebzehn.
»Danke«, erwiderte er. Langsam ging er auf die Wohnungstür zu, wobei ihn der alte Mann nicht aus den Augen ließ. »Habt keine Angst«, versicherte er ihm. »Ich werde nicht zurückkommen.«
* * *
Während Calder zu dem Bahnhof wanderte, den er an seinem ersten Tag in Sankt Petersburg gesehen hatte, erwachte die Stadt langsam zum Leben. Doch kein fröhlicher Sommermorgen zog auf, wie es in anderen Städten vielleicht der Fall war. Die meisten Geschäfte waren verrammelt, Türen eingeschlagen, Fenster zerbrochen, überall lag Glas auf dem Boden. In der Ferne weinte ein Kind.
Soldaten streiften in Gruppen umher. Menschen lungerten wie gesuchte Verbrecher am Straßenrand herum oder kauerten in verwüsteten Ladeneingängen und durchsuchten den Schutt. Rauch lag in der Luft, und auf der Straße war getrocknetes Blut zu sehen. Calder stolperte, als sein Blick verschwamm. Er versuchte, sich aufrecht zu halten, doch jemand stieß ihn von hinten, und er fiel auf ein Knie.
Eine enge Straße erschien vor seinen Augen, die, wie er wusste, nicht in Russland war. Er roch den Gestank von stehendem Gewässer, hörte eine Möwe schreien und sah einen kleinen, hinkenden Jungen vor ihm her laufen, in dessen Nacken dunkle Locken auf und ab hüpften.
Als sich Sankt Petersburg wieder vor seinen Augen auftat, stand Calder auf und setzte vorsichtig seinen Weg zum Bahnhof fort, da er nicht wusste, wann ihn sein Augenlicht wieder im Stich lassen würde. Je näher er den Bahnanlagen kam, desto mehr Menschen umgaben ihn. Sie umringten den überforderten Stationsvorsteher, bedrängten ihn mit Fragen und Hilfegesuchen. Doch nur jene, die sich eine Fahrkarte kaufen konnten, durften den Zug Richtung Osten nach Moskau und weiter besteigen.
Calder setzte sich in den letzten Waggon und kauerte sich in eine Ecke, da er so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erregen wollte. Er hörte das Zischen des Dampfes bei der Anfahrt, fühlte das Grollen der Maschinen, dann den Ruck, als sie sich in Bewegung setzten. An halb geöffneten, verschmierten Fenstern zog das trostlose Land vorbei. Er bemerkte ein Zugwrack, dessen Waggons gebrochen wie ausgeweidetes Vieh im toten Gras lagen. Der Sitz unter ihm wies Brandlöcher auf, die Wand neben seinem Kopf war aufgerissen. Eine seltsame Stille lag über den Reisenden. Soldaten und Bürger saßen streng voneinander getrennt, doch jeweils in Gruppen beieinander, flüsterten oder schliefen.
Calder wollte sich keinen Schlaf erlauben, auch wenn die Erschöpfung an ihm zehrte. Er glaubte, was Rasputin ihm gesagt hatte – dass seine Seele und nicht sein Körper nach Ruhe verlangten, doch als er sich das letzte Mal hingelegt hatte und wach bleiben wollte, waren ihm die Stunden entglitten. Er wollte seine Haltestelle nicht verpassen und in Wladiwostok enden.
Als der Zug endlich Jekaterinburg erreicht hatte, erblickte Calder zahlreiche Monumente und Gebäude, die sich von denen anderer Städte unterschieden. Zu seiner Überraschung wies ihm der Stationsvorsteher auf seine Frage, wo die Zarenfamilie festgehalten werde, ohne weiteres den Weg.
Es war später Nachmittag, und sein Schatten eilte ihm voraus wie ein Geist. Nach wenigen Minuten hatte er das Haus gefunden, das als kaiserliches Gefängnis diente. Das Tor war unbeschildert, und nur zwei Männer mit Gewehren hielten Wache. Keine Schaulustigen standen davor und hofften, einen Blick auf den ehemaligen Zaren zu erhaschen, weshalb auch niemand bemerkte, wie Calder einen Baum im hinteren Bereich des Holzzaunes erklomm.
Der Zaun war hoch und solide, und als er darüber hinwegblickte, sah er zwei weitere Männer über das Gelände patrouillieren. Die Fenster des Hauses waren weiß gestrichen, und man schien leicht eindringen zu können. Das Erdgeschoss befand sich halb unter der
Weitere Kostenlose Bücher