Seelenhüter
Erde, die Fenster etwa auf Kniehöhe.
Sobald sich die Wachen von seiner Ecke wegbewegt hatten, sprang Calder auf das Gelände, kam stolpernd auf die Füße und rannte zur Rückseite des Gebäudes. Eine hölzerne Treppe führte zur Hintertür, die mit einem Brett verbarrikadiert war. Die Schatten der Wachen erreichten die Ecke des Hauses in dem Moment, als Calder den Riegel zurückschob und hineinschlüpfte.
Drinnen war es stickig und überhitzt. Zu seiner Linken befand sich ein langer, leerer Raum, zu seiner Rechten ein leerer Flur. Er musste allein mit Alexandra sprechen, was vermutlich unmöglich war. Von links waren Männerstimmen zu hören. Calder öffnete die Tür zu seiner Rechten und zog sich in einen kleinen Raum mit vier Feldbetten und vier Stühlen zurück, über die Nachthemden gelegt waren – sicher das Schlafzimmer der Mädchen. Vor der Tür war das Geräusch schwerer Stiefel zu hören. Er bewegte sich leise auf eine weitere Tür auf der anderen Seite des Zimmers zu, schlüpfte in die dunkle Kammer dahinter und hastete zu dem Bett in der Ecke. Es gab nichts, worin er sich hätte verstecken können. Nur ein großer Stuhl, über dessen Rückenlehne eine alte, fleckige und zerschlissene Jacke hing wie eine Krähe, die sich dort niedergelassen hatte. Calder drückte sich tief in die Ecke und versuchte, Alexandras Stimme herauszuhören, als er merkte, dass jemand auf dem Bett lag.
Es war Nikolaus, der Zar selbst, mit einer abgetragenen Tunika und fadenscheinigen Hosen bekleidet, bewegungslos, die Hände an den Seiten. Sein Anblick war beunruhigend, das verhärmte Gesicht, der ergrauende Bart, die Starre, wie die Totenmaske auf einem Sarkophagdeckel, dass Calder den Zaren mit angehaltenem Atem anstarrte.
Der Kaiser schlug so plötzlich die Augen auf, dass Calder erstarrte und keinen Muskel rührte, aus Angst, entdeckt zu werden. Nikolaus setzte sich seufzend auf, ihm den Rücken zugewandt. Für einen Moment ließ er den Kopf sinken, dann stand er auf und ging aus dem Raum. Die Tür ließ er offen.
Calder fiel auf, dass die Gegenstände auf der Kommode nicht willkürlich herumstanden, sondern sorgfältig arrangiert waren. Auf der linken Seite die Bibel, auf der rechten ein hölzernes Kreuz, außerdem gepresste, in einem Halbkreis angeordnete Pflanzenteile, etwa ein halbes Dutzend, einige kleine Blätter und ein paar winzige Blüten. In der Mitte lehnte an der Wand eine Fotografie ohne Rahmen, leicht verkrümmt – eine Aufnahme von Calder in Rasputins Körper. Es war das Bild, das Ana bei seinem ersten Besuch im Katharinenpalast von ihm gemacht hatte.
Als er Nikolaus zurückkommen hörte, ließ er sich hinter dem Stuhl auf ein Knie fallen, hielt den Kopf gesenkt und hoffte, vollständig verdeckt zu sein. Plötzlich verstummten die Schritte, und Calder hielt den Atem an, davon überzeugt, dass Nikolaus auf sein Versteck starrte. Doch dann hörte er, wie eine Kommodenschublade aufgezogen wurde.
Vorsichtig lugte er über die Stuhllehne und erblickte Alexandra, die sich eine weitere Haarnadel ins Haar steckte. Sie trug ein einfaches Baumwollkleid, das fadenscheinig und fleckig war. Ihre Hände waren runzlig, und die Venen traten sichtbar hervor. Er verließ sein Versteck und stellte sich so hinter sie, dass sie ihn im Spiegel sehen musste.
»Habt keine Angst«, flüsterte er.
Ihre Blicke begegneten sich im Spiegel.
Alexandra erstarrte und begann zu zittern. »Ist das eine Vision?«, fragte sie flüsternd.
Calder bewegte sich kopfschüttelnd auf sie zu und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter.
»Die Engel haben Euch zu mir zurückgesandt«, sagte sie. »Gott sei Dank.« Sie lächelte, und Tränen rannen ihre Wangen hinab.
Calder bedeutete ihr mit einem Finger an den Lippen, leise zu sein.
Alexandra drehte sich zu ihm um. »Ihr seid gekommen, um uns zur Flucht zu verhelfen.«
Er hatte keine Zeit, ihr die Lage zu erklären. »Ich kann nicht alle retten«, sagte er nur. »Aber ich muss Euch mit mir in den Himmel nehmen.«
Sie war verstört. »Werde ich jetzt sterben?«
Calder zog den Schlüssel unter seiner Tunika hervor und streckte ihn ihr auf der offenen Handfläche entgegen. »Das ist die Macht über den Tod.«
Sie warf nur einen flüchtigen Blick darauf, denn etwas in seinem Gesichtsausdruck hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. »Allein für mich?«
Calder nickte.
Alexandra streckte den Rücken und sah ihn kühl an. »Meine Familie soll verhungern, während ich überlebe, damit ich sie
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