Seelenhüter
aufhäufte.
Es war die kälteste Zeit der Nacht, wenige Stunden vor der Dämmerung, doch Calder merkte sofort, dass Sommer war. Die Büsche trugen Knospen und waren ohne Frost. Über und über mit Schlamm bedeckt, entstieg er seinem Grab, dem einzigen auf dem Friedhof. Mindestens ein halbes Jahr war vergangen, seit er in der Erde gelegen hatte, doch sein gestohlener Körper war nicht verwest. Haare und Bart waren keinen Millimeter gewachsen.
Panik durchfuhr Calder, doch zu seiner großen Erleichterung hing die Kette mit dem Schlüssel unter der Tunika immer noch um seinen Hals. Wer auch immer ihn beerdigt hatte, musste den Schlüssel für eine von Vater Grigoris Ikonen gehalten haben.
Er stolperte einen Weg entlang, den er erkannte, und auch die Umgebung war ihm vertraut – er war auf dem Gelände des Katharinenpalastes. Doch die Gärten waren verwildert, und nirgendwo brannte Licht in den Fenstern. Calder ging auf den Flügel zu, wo er Alexandra das letzte Mal gesehen hatte, doch alle Türen waren verschlossen. Er presste das Gesicht gegen eines der Fenster, die zur Bibliothek gehörten, aber er sah nur leere Regale und verhangene Möbel.
Auf dem Weg in die Stadt beschloss Calder, dass er nicht länger Rasputin sein konnte. Er fürchtete, zu viel Aufmerksamkeit zu erregen, sollte jemand entdecken, dass er ein Begleiter im Körper eines Menschen war, doch es wäre weitaus schlimmer, für einen toten und wie Lazarus wiederauferstandenen berühmten Heiler gehalten zu werden.
Die Fenster von Rasputins Wohnung waren dunkel, ebenso wie das ganze Gebäude. Auch wenn Calder Angst hatte, gesehen zu werden, musste er sich unbedingt von dem Schlamm reinigen, bevor er sich auf die Suche nach Alexandra machte.
Er versuchte, die Tür zu seiner – und jetzt Marias – Wohnung zu öffnen, und sie war tatsächlich unversperrt. Das Wohnzimmer lag dunkel und still da. Vorsichtig ging er ins Badezimmer, wo er sich wusch und eine Schere fand, die wie ein silberner Kranich geformt und zu klein für seine Finger war, doch überraschend scharf. Er zog Rasputins rauhes Haar über der linken Schulter glatt und begann zu schneiden, so lange, bis es nur noch zwei Zentimeter vom Kopf abstand. Die Büschel fielen zu Boden wie die Wolle eines schwarzen Schafs. Das Waschbecken sah aus, als hätte ein Vogel darin genistet.
Calder beugte sich zu dem Spiegel und stutzte den Bart bis auf die Haut. Den Rest wollte er abrasieren, doch dann stellte er fest, dass die Haut unter dem Bart viel bleicher war als an den wettergegerbten Stellen auf Wangen, Nase und Stirn. Er ließ den kurzen Bart daher stehen, nachdem er ihn begradigt hatte. Das Haar dagegen war unzähmbar. Es stand in alle Richtungen stachelförmig ab, als sei es von einem großen Tier abgeleckt worden.
Danach ging er in Rasputins früheres Zimmer, dessen Tür offen stand. Man hatte die Möbel vollkommen erneuert, das Bett durch ein zweisitziges Sofa ausgetauscht, die Kommode durch einen Tisch. Er ging zu dem Schrank und nahm eine Tunika, schwarze Hosen und einen langen schwarzen Mantel heraus. Unter dem Fenster stand ein Paar Stiefel. Als er den Tisch durchsuchte, fand er zwar keine von Rasputins Nachrichten, doch der dicke Geldstapel war noch da, fein säuberlich mit einem Stück Stoff zusammengebunden. Es war ihm unangenehm, das Geld zu nehmen, doch er musste es tun.
»Ich träume nicht«, ertönte da eine Stimme von der Tür. »Ihr seid doch tot.«
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Teil III
Die Übergabe des Schlüssels
12.
N icht Maria, sondern ein älterer Mann, barfuß und im Nachtgewand, war hinter ihm erschienen. Nun rückte er seine Brille auf der Nase zurecht, als ob Calder eine optische Täuschung wäre.
Der Puls des Seelenhüters überschlug sich beinahe. »Wo ist meine Tochter?«, fragte er.
Den Mann überlief ein sichtlicher Schauder beim Klang dieser Stimme aus dem Grab. »Eure Tochter? Die ist weggezogen.« Seine Hände zitterten, doch er wich nicht zurück. »Spukt Ihr hier?«, fragte er tapfer. »Was wollt Ihr von mir?«
»Ich habe noch eine Frage.« Mit Mühe brachte Calder ein Lächeln zustande. »Wo ist die Familie des Zaren?«
»Manche sagen, sie würden in Jekaterinburg festgehalten«, antwortete der alte Mann.
»Festgehalten?« Calder war verwirrt. »Sind sie Gefangene?«
Sein Gegenüber nickte nervös.
»Was ist seit meinem Tod geschehen?«
»Ihr wollt alles wissen?« Der alte Mann trat von einem Fuß auf den anderen, vielleicht überlegte er, ob die Neuigkeiten
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