Seelenhüter
»Werden sie uns töten?«
»Sch!«, wies Ana ihren Bruder schärfer zurecht, und diesmal schwieg er.
Alexis war immer noch wütend und weigerte sich, Calder anzusehen. »Wenn er früher gekommen wäre«, sagte er schließlich, »dann hätten wir Nagorny noch.«
»Wer ist Nagorny?«, fragte Calder.
»Sein Aufpasser«, erwiderte Ana.
»Er hat in der Marine gedient«, sagte der Junge wütend, als ob sie den Mann beleidigt hätte. »Er war mein Freund.«
Ana beäugte Calder vorsichtig, es tat ihr offensichtlich leid, dass ihr Bruder so unhöflich war. Gleichzeitig war sie auf der Hut. »Was werden sie denken, wenn unsere Körper nicht bei den anderen sind?«
So weit hatte Calder nicht vorausgedacht. Sicherlich würden sie die Toten zählen, um sicherzugehen, dass keiner in den Tiefen des Schachts verlorengegangen war. Würden sie vielleicht annehmen, dass die Dorfbewohner zwei Leichen gestohlen hatten? Oder dass zwei Kinder überlebt hatten und entkommen waren? Sie würden das gesamte Gebiet durchsuchen, aber wäre es für sie nicht riskant, die beiden Fehlenden zu melden? Diese Panne würde hart bestraft werden.
»Sie werden es niemandem sagen. Es könnte sie das Leben kosten.«
»Sie werden uns hier finden«, sagte Ana.
»Das werde ich nicht zulassen«, erwiderte Calder.
»Warum nicht?«, fragte der Junge. Er saß an Anas Schulter gelehnt mit halbgeschlossenen Augen da, als ob er gleich einschlafen würde. »Ich will, dass sie kommen. Ich will sie töten.«
Ana flüsterte ihm leise etwas zu, und er gab sich wieder der Trauer hin. Ein stetiger Tränenfluss rann ihm über die Wangen, bis er endlich einschlief. Ana bettete ihn behutsam auf die Blätter neben ihr. Zum ersten Mal bemerkte Calder den nackten Hals des Mädchens.
»Wo ist der Schlüssel?«, fragte er mit wild klopfendem Herzen.
Ana blickte an sich hinunter, sah das zerrissene Korsett und den zerfetzten Petticoat und bedeckte sich mit den Händen. Calder gab ihr seinen Mantel, in den sie sich fest einhüllte.
»Er ist sicher«, erwiderte sie. Dann warf sie ihrem Bruder einen Blick zu. »Bitte nimm ihm die Ausbrüche nicht übel und mir nicht, dass ich ihn verhätschele.«
Erst nach einem Moment verstand Calder, dass sie damit die Worte ihres Bruders meinte. »Das tue ich nicht.«
»Er ist der Erbe des Reiches, aber auch ein Junge, der seine Familie verloren hat …« Sie schien überrascht und schloss abrupt den Mund.
»Es tut mir leid.« Angesichts der lächerlichen Unangemessenheit dieser Worte schwieg Calder.
»Was geschieht hier?«, fragte sie. »Warum rettet Gott uns zwei und nicht die anderen?« Als Calder darauf nicht gleich antwortete, fuhr sie fort: »Was ist diese Reise, von der Alexis sprach? Nimmst du uns irgendwohin mit?«
Sein Plan beschämte ihn. »Ich werde dich und deinen Bruder mit in den Himmel nehmen«, sagte er. »Sobald du mir den Schlüssel gibst.«
Später würde er ihnen dann erklären, dass sie Lehrlinge waren und die Arbeit eines Begleiters erlernten, wenn sie erst einmal auf der Passage waren.
»Sind die anderen auch im Himmel?« Anas Augen lagen tief in den Höhlen, und sie wirkte sehr klein und jung.
»Es besteht kein Zweifel.«
Sie nickte und blickte erneut zu Alexis hinüber. »Es ist nicht richtig, zurückgelassen zu werden.« Sie klang ängstlich, ihre Mundwinkel und das Kinn begannen leicht zu zittern. »Vater und Mutter würden uns nie alleinlassen.« Sie ging zu Calder und flüsterte ihm Dinge zu, die sie offensichtlich nicht laut aussprechen wollte. »Die Kugeln haben meinen Körper durchschlagen, ich habe gespürt, wie sie brennen. Eine ist direkt durch meine Kehle gedrungen und hat Olga getroffen. Ich habe versucht, sie mit den Händen aufzuhalten, doch sie sind hindurchgeschossen.«
Calder wusste nicht, wie er ihr das Leid ersparen könnte, außer, indem er ihr zuhörte. »Ja«, sagte er. »Ich verstehe.«
»Ich habe die Augen zugemacht«, flüsterte sie. »Aber ich konnte hören …« Sie hielt inne. »Ich lag mit Olga und Maria da, habe sie berührt. Das ganze Blut war von ihnen.«
»Ja.« Calder fühlte sich wie ein Verbrecher, als er dieser intimen Erzählung lauschte, die für ihre Liebsten bestimmt war.
»Ich habe gespürt, wie Alexis in dem Lastwagen meine Hand genommen hat. Man hatte uns wie Feuerholz einfach aufeinandergestapelt. Ich weiß nicht, wer neben oder über mir lag, doch er hat meine Hand gefunden. Und er hat die ganze Zeit keinen Laut von sich gegeben.«
»Ja«,
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