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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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flüsterte Calder erneut. »Er ist ein tapferer Junge. Und du bist ein tapferes Mädchen.«
    Sie holte so tief Luft, dass sie sich krümmte. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte in qualvoller Stille, um ihren Bruder nicht zu wecken. Calder wollte sie trösten, doch als er Rasputins große Hand hob, scheute er davor zurück, sie zu berühren.
    »Wir brauchen den Schlüssel«, sagte er stattdessen. »Haben ihn die Wachen mitgenommen, als sie die Leichen durchsucht haben?«
    Ein entferntes Geräusch schreckte ihn auf. Ein Motor in weniger als einer Meile Entfernung, doch er hielt ihr Versteck für sicher genug. Beim zweiten Geräusch, dem Knall einer Fehlzündung, hob Ana den Kopf und lauschte.
    »Alles in Ordnung«, versicherte ihr Calder. »Wir sind weit genug weg.«
    Sie wischte sich über die Augen und horchte weiter. »Was jetzt?«
    Sie legte eine Hand auf den Rücken ihres Bruders. »Du wirst uns in den Himmel mitnehmen?«
    »Ja.«
    »Warum hast du uns dann den Schlüssel gegeben?«
    »Ich bin auf die Erde gekommen, um einen Lehrling zu erwählen«, erklärte er ihr.
    »Du bist wegen meines Bruders hier? Um ihn zu einem Engel auszubilden, wie du es bist?«
    »Nein, wegen deiner Mutter.«
    Das Feuer kehrte in ihre Augen zurück und erhitzte Calders Gesicht und Hals. »Du wolltest uns unsere Mutter wegnehmen?«
    »Ich wusste erst nicht, wer sie war.«
    »Was hast du dir nur dabei gedacht?« Anas Zorn war so mächtig, dass er zurückwich. Wieder verlangte sie die Wahrheit von ihm.
    »Ich dachte, ich liebe sie«, antwortete er schließlich.
    »Du hast sie nicht einmal gekannt.«
    Ihre Worte schmerzten in seinen Ohren, aber er wusste, dass sie wahr waren. Sein unbeholfener Weg in die Welt der Lebenden auf der Suche nach Glory war nicht spiritueller gewesen, als wenn ein Bär ein Bienennest vom Baum schlägt, um den Honig zu stehlen. Doch Anas Ausdruck wurde weicher angesichts seines offensichtlichen Elends.
    »Als Rasputin ermordet wurde, haben sie dich getötet«, sagte sie. »Aber du konntest nicht sterben, nicht wahr?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Wo warst du die ganze Zeit?«
    »In meinem Grab.« Calder erkannte, dass diese Erklärung zu einfach war, doch die Vorstellung schockierte Ana. Sie setzte sich auf und starrte ihn mit feuchten Augen an. »Kann ich jetzt bitte den Schlüssel haben?«
    »Was hat es mit einem Lehrling auf sich?«, fragte sie.
    »Lass das meine Sorge sein.« Er hatte das Gefühl, dass sie bereitwillige Begleiter sein würden, sobald sie einmal auf der Passage waren. Momentan wollte er sie nur beruhigen.
    Zum ersten Mal wirkte sie schuldbewusst. »Ich wusste nicht, was der Schlüssel bedeutet.« Sie warf ihrem schlafenden Bruder einen Blick zu. »Alexis zeigte mir, wie er ihn unverletzbar gemacht hat.« Sie hielt inne, erinnerte sich wohl an den Moment, als ihr Bruder ihr sein geheiltes Bein gezeigt hatte. »Wir brauchten jemanden, der uns zur Flucht verhalf.« Sie sah Calder in die Augen und wandte dann den Blick wieder ab. »Als ich jemanden auswählte, wusste ich nicht, was in jener Nacht passieren würde.«
    Sie hatte nicht verstanden, dass man den Schlüssel nicht einfach irgendwem übergeben konnte. Sie und ihr Bruder waren ausersehen – doch wen auch immer Ana nun auserwählt hatte, er war nicht auf diese Weise gesegnet.
    »Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich alle retten können«, bekannte Ana, beschämt über ihre Entscheidung. »Ich habe ihn mit einer Nachricht für Ilja an der Stelle hinterlegt, wo wir immer Botschaften ausgetauscht haben.«
    Calder betete, dass er den Mann leicht finden würde. »Wo ist Ilja?« Er wusste, wie ängstlich er klang, aber er konnte nichts daran ändern.
    »Er war mein Liebster.« Bei diesen Worten errötete sie, eher aus Verlegenheit als vor Freude. »Eine der Wachen.«
    »Wir müssen ihn finden.«
    Männerstimmen und laute Rufe, in einiger Entfernung zwar, aber zu nahe, brachten die beiden zum Schweigen. Alexis erwachte, setzte sich auf, und die drei lauschten mit angehaltenem Atem. Ein weiterer Schrei, dann undeutliche ärgerliche Fragen, das Klirren von Schaufeln, eine zugeschlagene Autotür.
    »Lasst sie uns hier finden«, sagte Alexis. »Ich will, dass sie mich entzweischneiden. Dann heile ich mich wieder und treibe sie den ganzen Weg bis in die Hölle!«
    »Sei still«, zischte Ana. »Willst du gefangen, aufgespießt und ausgestellt werden wie ein ausgestorbenes Tier?« Sie blickte Calder mit einer Kälte an, die ihn

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