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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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wiedererkennen könnte, sondern auch, weil sie nicht vollständig bekleidet waren.
    Er fand ein Versteck für sie unter einem Pferdewagen, der ohne Räder in einem Graben abgestellt worden war, sozusagen ein von der Straße abgewandter Unterstand. Calder konnte nur hoffen, dass kein spielendes Kind und auch kein neugieriger Hund die beiden vor seiner Rückkehr entdeckte.
    »Ich werde sie wegwerfen«, sagte er mit einem Blick auf die Schiene.
    »Ja, weg damit«, erwiderte Alexis, der trotzig unter der zur Seite gekippten Unterseite des Karrens saß. »Warte.« Er streckte die Hand aus. »Gib sie mir doch.«
    Calder reichte dem Jungen die Schiene.
    »Warum?«, fragte Ana.
    »Weil sie mir gehört.« Alexis begann, das Metallgestell in seine Einzelteile zu zerlegen, sein einziger weltlicher Besitz. »Warum Ilja?«, fragte er erneut.
    »Er ist ein guter Mann«, antwortete Ana. »Er würde uns nie Schaden zufügen.«
    »Er war in dem Zimmer«, sagte ihr Bruder.
    Diese Nachricht erschütterte Calder. War Ilja einer der Mörder?
    »Er war dort«, sagte Ana. »Aber er konnte sie nicht aufhalten.«
    »Er hatte eine Pistole.«
    »Er hat nicht abgedrückt.«
    Calder stellte sich vor, wie der Wachmann, der Anas Herz erobert hatte, seinen Kameraden dabei zusehen musste, wie sie das Blut an den Wänden verteilten.
    »Du hast mir den Schlüssel gegeben«, warf sie ihrem Bruder vor. »Warum hätte ich ihn nicht weitergeben sollen?«
    »So funktioniert es nicht«, sagte Calder.
    Ana ignorierte ihn. »Du würdest Ilja mögen, wenn du dich nur mal richtig mit ihm unterhalten würdest«, sagte sie zu ihrem Bruder.
    Calder ließ die beiden nur ungern zurück, doch er hatte keine Wahl. Als er durch die leeren Straßen ging, merkte er, dass die Geschäfte noch geschlossen waren. Daher schlug er einfach eine der kleinen Scheiben in der Tür eines Ladens ein und verschaffte sich so Zutritt.
    Er nahm ein Kleid und ein Paar Damenschuhe, von denen er annahm, dass sie Ana passten, sowie ein Hemd und eine Hose für Alexis. Sein Blick fiel auf einen runden weizenfarbenen Damenhut mit kleiner Krempe, der auf einem Hutständer hing. Der Hut fühlte sich so weich an, dass er ihn sich spontan unter den Arm klemmte. Bevor er etwas Geld auf den Tresen legte, nahm er noch eine Brille mit und schlich aus dem Laden.
    Die Stadt erwachte langsam zum Leben, doch niemand hatte die beiden Kinder gefunden. Calder hielt Wache, während sich Ana und Alexis hinter ihm umzogen. Als sie ihre neuen Kleider trugen und er sich umdrehte, musste er ein seltsames Gesicht gemacht haben.
    »Ist es so schlimm?«, fragte Ana.
    Das erdbraune Kleid mit den langen Ärmeln, dem runden Kragen und den Taschen auf beiden Seiten des Rocks saß recht locker. Er war überrascht, wie hübsch sie darin aussah.
    »Es ist etwas zu groß«, stellte Ana fest und zupfte an den Schulternähten herum.
    »Sehr kleidsam«, sagte Calder.
    »Ich werde mir den Hals brechen, weil ich ständig drüber stolpern werde«, beschwerte sich Alexis und schüttelte seine Hosenbeine. Die Aufschläge stießen auf dem Boden auf, doch Ana krempelte sie hoch. Das weiße Hemd blähte sich, als wäre es aus Shakespeares Zeiten.
    »Sag dir, dass es eine Verkleidung ist«, riet sie ihm.
    Calder war sich sicher, dass Alexis seit seiner Gefangennahme so viel gewachsen war, dass ihn in Jekaterinburg niemand erkannte. Bei Ana war er sich nicht so sicher, denn sie sah ihrer Mutter und ihren Schwestern extrem ähnlich. Er ließ sie das Haar unter dem Hut verstecken und gab ihr die Brille, aus der er die Gläser herausbrach.
    Alexis musterte sie von oben bis unten und seufzte. »Lächerlich.«
    »Vielen Dank«, sagte sie schnippisch.
    Die beiden mussten Calder versprechen, in ihrem Versteck zu bleiben, auch wenn sie lieber mit ihm zum Gefängnishaus gegangen wären. Ana, um Ilja zu sehen, und Alexis, um sich an den Soldaten zu rächen, die seine Familie ermordet hatten – zumindest vermutete Calder das. Anfangs widersprachen sie, schienen jedoch zugleich erleichtert von Calders Weigerung, sie mitzunehmen.
    »Weißt du, wie sie das Haus genannt haben?«, fragte Alexis. »›Das Haus zur besonderen Verwendung‹. Jetzt wissen wir, was das für besondere Verwendungen waren.«
    * * *
    Das Tor war nur von einem Mann bewacht, während sich im Hof drei Männer zusammendrängten und rauchend an der Westwand des Hauses lehnten. Sie waren zwar bewaffnet, wirkten jedoch unaufmerksam. Calder wartete, bis sie abgelenkt waren und über

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