Seelenhüter
auseinanderstanden.
»Was tust du da?«, fragte Alexis.
Ein Junge, jünger als der Zarewitsch, lag in einem der Betten und schreckte aus dem Tiefschlaf auf. Ana starrte auf das zweite Bett, von dem die Laken abgezogen und auf dem das Bettzeug sorgfältig aufgerollt worden war. Bilder aus Zeitschriften von Schauspielern und Schauspielerinnen, Stränden und Villen hingen an der Wand.
»Ich sage euch doch, er ist nicht hier«, fuhr die alte Frau sie an. »Seid ihr alle verrückt geworden?«
Ana kniete sich nieder und tastete mit der Hand unter dem Bett. Sie hob eine Diele in einer Ecke an und holte eine Zigarrenschachtel aus dem Loch hervor. Sie war leer.
»Aha, ihr habt ihn also gekannt.« Die Frau verschränkte angewidert die Arme. »Ich lüge nicht. Er ist nach Amerika.«
»So schnell?« Ana erbleichte vor Schock.
»Du hättest ihm niemals den Schlüssel geben dürfen«, warf Alexis ein.
»Was für einen Schlüssel?«, fragte die Frau.
Der kleine Junge, vielleicht Iljas Bruder, setzte sich auf und rieb sich die Augen. Der alte Mann stand barfuß im Flur und versuchte zu verstehen, was da vor sich ging.
Plötzlich röteten sich Anas Wangen unregelmäßig. »Er dachte, wir seien tot«, sagte sie. »Ich weiß, wo er hin wollte.« Sie wandte sich an die Frau. »Wo lebt sein Cousin Sascha?«, fragte sie. »Ich muss die Adresse haben.«
»Du
musst?
« Sie drohte Ana mit der Faust. »Du musst gar nichts, außer aus meinem Haus verschwinden.«
Als Calder merkte, wie sehr Alexis dieser beleidigende Ton aufbrachte, scheuchte er die Geschwister die Treppe hinunter, bevor es zu einem Kampf kommen konnte. Er versuchte, die alte Frau mit Entschuldigungen und einer Goldmünze zu besänftigen. Sie jagte die drei unter Gezeter aus dem Haus und warf ihnen die Münze nach, ließ sie jedoch in ihren Eingang rollen und nicht auf die Straße.
»Verschwindet, bevor ich die Polizei rufe«, brüllte sie.
Ihr Mann hob die Goldmünze auf und rief ihnen über die Schulter seiner Frau zu: »Wir haben keine Adresse. Ilja wollte ihn in Kalifornien suchen.«
Seine Frau schnaubte verächtlich und schlug die Tür zu.
Der Tumult hatte die Aufmerksamkeit einiger Passanten erregt, darunter zwei Soldaten. Calder nahm Alexis die Schiene ab und versteckte sie unter seinem Mantel, während er die Kinder zur Eile antrieb, ohne den Eindruck zu erwecken, sie seien auf der Flucht.
»Hast du ihm nichts von dem Schlüssel erzählt?«, fragte Alexis.
»Das ist nicht so einfach in einer kurzen Nachricht«, antwortete seine Schwester. »Er würde mich nicht einfach verlassen, wenn er mich nicht für tot hielte.«
Calder ging zwischen den beiden, hielt Ana leicht am Ellbogen und führte sie an den Kirchentreppen vorbei.
»Er ist einer von ihnen«, sagte Alexis anklagend.
»Er war nicht wie die anderen«, wies sie ihn scharf zurecht.
Die beiden waren stehen geblieben.
»Sobald wir freigelassen worden wären, hätte er um meine Hand angehalten, und wir wären davongelaufen …« Sie zögerte. »Sein Cousin hätte uns Arbeit in Kalifornien verschafft.«
»Warum sollte Ilja für Arbeit bis nach Amerika fahren«, hielt Alexis dagegen, »auch wenn sein Cousin dort lebt?«
Ana schien peinlich berührt. »Sascha ist Künstler. Er malt.«
Der Schatten eines Vogels glitt über ihre Gesichter und lenkte Calders Aufmerksamkeit auf die Vorderseite der Kirche und ihre gewölbten Bögen. Obwohl er wusste, dass eine Kirche so verderbt sein konnte wie eine Spielhölle und dass ein Berg in der Wüste so heilig sein konnte wie eine Kathedrale, ließ die Vorstellung, dass diese Kirche vielleicht einen Weg auf die Passage ermöglichen könnte, seinen Mut wachsen.
Alexis runzelte die Stirn. »Du lügst«, sagte er.
»Ich lüge nicht.«
Die beiden schienen es kaum zu bemerken, wie Calder sie die Treppen hinauf und in die Kirche führte.
»Er ist ein Landschaftsmaler«, erklärte Ana. »Wunderschöne Landschaften, die ganz echt in den Filmen aussehen, sagt Ilja. Wie Zauberei.«
»In Filmen«, wiederholte ihr Bruder. »Was hast du da gesagt?«
»Sprecht leise«, flüsterte Calder, als sie das Vestibül betraten. Der Altarraum war beinahe verlassen.
»Bewegte Bilder«, flüsterte Ana. »Sascha sagte, er habe einem Regisseur ein Foto von Ilja gegeben, der ihn unbedingt als Schauspieler haben wollte …«
»Das ist nicht dein Ernst.« Alexis stöhnte verächtlich. »Du hättest deine Familie zurückgelassen, um mit Ilja nach Amerika zu gehen und dort Filme zu
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