Seelenhüter
drehen?«
»Es ist wunderbar in Kalifornien«, verteidigte sich Ana. »Du wirst schon sehen.« Dann erklärte sie Calder: »Wir müssen zu Ilja. Er hat den Schlüssel.«
Als Calder mit leisen Schritten über den roten Teppich im Mittelgang schritt, schienen Wände und Decke, ja, jede Oberfläche mit Türen bedeckt zu sein. Die Pfeiler formten Türen in der Luft, der Altar bildete den großen bogenförmigen Eingang zu einer Höhle, und zu beiden Seiten des Altarraums waren kleine, gewölbte und zugespitzte Einbuchtungen mit Malereien wie Portale in andere Welten. Sie sahen aus wie Szenerien von der Passage: die Kreuzigung, das Letzte Abendmahl, der Garten von Gethsemane.
Die Kerzen auf dem Altar knisterten, als Calder sich den ersten Bankreihen näherte. Er wusste, wer den Schlüssel hatte und wo er sich ungefähr befand, doch die Zeit, die es ihn in seiner menschlichen Gestalt kosten würde, um die halbe Welt zu reisen, bereitete ihm Übelkeit. Er hoffte, an diesem heiligen Ort eine Möglichkeit zu finden, um mit dem Captain in Verbindung zu treten. Außerdem hegte er insgeheim die Hoffnung, dass man ihm zeigen möge, wie er direkt eine Tür zum Aufenthaltsort des Schlüssels öffnen könnte.
Drei Gemeindemitglieder saßen in der ersten Bankreihe, eine junge Frau in Trauerkleidung und zwei ältere Herren, sonst war die Kirche leer bis auf einen Priester, der aus einem Raum hinter dem Altar trat. Er trug eine dunkle Robe, die über den Boden strich, und einen Klobuk, der ihm über den Rücken hing. Der Begleiter war bisher zwar nur in wenigen Kirchen gewesen, hatte sie aber als friedliche Orte in Erinnerung. Nur nicht diese. Hier bebte die Luft vor Missfallen und ließ die Kerzendochte zischen. Die Schatten, die an der Decke tanzten, irritierten ihn, weil sie sich wie denkende Wesen in den Ecken seines Sichtfeldes bewegten.
Jetzt ballten sich die Schatten zusammen und hingen wie ein bedrohlicher Fleck über der ersten Bankreihe.
17.
D ie junge Frau, die beim Beten leise geweint hatte, stand plötzlich auf, und die Dunkelheit über ihr schien einen schwarzen Nebel herabregnen zu lassen. Calder wurde eiskalt, doch er zwang sich, stehen zu bleiben, indem er sich an der Bankreihe neben ihm festklammerte. Wieder begannen die Kerzen zu flackern, und die Glaslampen, die an Ketten von der Decke herabhingen, schwangen knarrend hin und her. Der Blick der Frau ruhte auf Calder, entsetzt und anklagend.
»Du bist der Teufel«, flüsterte sie.
Calder dachte, er hätte sich verhört.
Doch sie zeigte auf ihn und sagte: »Komm mir nicht zu nahe.«
Die zwei alten Herren wirkten überrascht, und der Priester trat an die Seite der Frau.
»Josef sagt, er ist der Teufel.« Ihre Stimme hallte durch die Kirche. »Josef hat es mir gesagt.«
»Ihr Mann«, sanft nahm der Priester die Hand, die auf Calder zeigte, und zog sie nach unten, »ist seit zwei Monaten tot. Wann hat er Ihnen das gesagt?«
»In diesem Moment«, antwortete sie zitternd. »Ich habe seine Stimme in meinem Ohr gehört.«
Calder hatte das Gefühl, alles sei seine Schuld und seine Anwesenheit habe den Mann dieser jungen Witwe aus dem Land der verlorenen Seelen hergetrieben, um sie zu quälen.
»Zeig mir deine wahre Gestalt«, zischte sie nun.
Calder drehte sich um und ging aus der Kirche auf die Straße. Die Hoffnung, hier Antworten oder Trost zu finden, war erloschen. Ana und Alexis folgten ihm.
»Was war los mit der Frau?«, fragte Alexis.
Calder ging in Richtung Bahnhof. »Wir müssen den Schlüssel finden«, sagte er nur. Er ließ den Blick wachsam über die Straße und den Himmel schweifen, falls ihnen ein dunkler Nebel oder ein ungewöhnlicher Schatten folgte.
»Ilja wollte von Wladiwostok aus mit dem Schiff fahren«, sagte Ana. »Er kann uns nicht mehr als einen Tag voraus sein. Vielleicht finden wir ihn noch, bevor er abreist.«
Ein Mann rannte auf sie zu, einen Stapel Zeitungen auf dem Arm, stieß mit Ana zusammen und rief: »Pass doch auf!«
Alexis brüllte ihm hinterher: »Weißt du überhaupt, mit wem du da sprichst?«
Der Mann rannte einfach weiter, ohne ihn zu beachten.
»Sei ruhig«, schalt ihn Ana.
Ihr Bruder funkelte sie an. »Warum sollen wir ihm nicht sagen, wer wir sind? Wovor hast du Angst?«
Calder sah, wie die Furcht in Anas Augen von fester Entschlossenheit abgelöst wurde. »Sie haben uns bereits einmal getötet«, flüsterte sie. »Glaubst du immer noch, du wirst einmal dieses Land regieren?«
Alexis versteifte sich.
»Vater
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