Seelenhüter
hat für dich ebenso wie für sich selbst abgedankt«, erinnerte sie ihn.
Der Junge blieb starrköpfig stehen, und Anas Ausdruck änderte sich abrupt. Sie schalt ihn nicht wie eine Mutter, redete nicht besänftigend auf ihn ein wie eine Gouvernante oder stichelte wie eine Schwester. Als sie merkte, wie Überraschung und Verletztheit sein Gesicht verhärteten, gab sie allen Widerstand auf.
»Wir werden das schon schaffen«, sagte sie begütigend.
Man hatte Ana und Alexis aus ihrem vorgegebenen Leben gerissen – das Mädchen würde nie seine Untertanin sein, nie wieder auf eine geringere Position verwiesen werden, weil sie als Frau geboren war. Doch statt diese neue Freiheit stolz zur Schau zu stellen, sprach sie zu ihm wie zu einem Freund. »Ich will zu Mutter und Vater gehen, du nicht?«
Alexis verlagerte sein Gewicht und runzelte die Stirn wie ein verdrossenes Kind.
»Wir sind nicht mehr wir selbst«, erklärte sie ihm. »Wir sind nur noch die Erinnerung an uns.«
Calder stand ungeduldig neben ihnen, doch er wollte Alexis keinen weiteren Grund zum Widerstand geben.
»Was denkst du?«, fragte Ana ihren Bruder. »Willst du mich begleiten?«
Alexis wandte sich an Calder. »Ist der Himmel voller singender Engelchen, Heiliger und Harfenklänge?«
Der Seelenhüter hatte seine eigenen Vorstellungen von großen Festen, Spielen und Festmählern, doch er war noch nie auf der anderen Seite der Tore gewesen. Dennoch hörte man so einiges. »Ich weiß es nicht.« Er kannte sich auf der Passage aus, doch fast alles, was er über den Himmel wusste, hatten ihm andere Begleiter erzählt. Manche Geschichten hörten sich an wie Legenden, doch einigen schenkte er Glauben.
»Der Himmel klingt langweilig«, sagte Alexis.
»Solltest du es nicht erst ausprobieren und dann darüber urteilen?«, fragte Calder milde. »Den Himmel abzulehnen wäre, wie ein Paket mit der Post zu bekommen und es nie zu öffnen, weil es leer sein könnte.«
»Nein«, erwiderte Alexis. »Wenn ich das Paket nicht mag, kann ich es wegwerfen und mein Leben normal weiterleben, doch ich kann den Himmel nicht für ein paar Tage ausprobieren und danach hierher zurückkehren, oder?«
Calder bemerkte, wie sich der Rauch aus der Pfeife eines vorbeigehenden Herrn unnatürlich kräuselte, als er auf sie zuwehte. Am liebsten hätte er sich Ana und Alexis über die Schulter geworfen und wäre davongerannt, doch er zwang sich zur Ruhe. »Der Himmel ist voll wunderbarer Abenteuer, die wir uns nicht einmal vorstellen können«, erklärte er dem Jungen. »Ich würde meine Seele darauf verwetten.«
Alexis seufzte. »Na gut.«
Calder nahm die beiden an der Hand und ging mit ihnen weiter Richtung Bahnhof. Er versuchte, sich nicht zu sehr von dem dunklen Nebel ablenken zu lassen, der neben der Schulter des Jungen schwebte. Der Nebel folgte ihnen, bis sie das Bahnhofsgebäude betraten, dann erhob er sich wie eine Phantomkrähe und verschwand.
Der Stationsvorsteher war gerade damit beschäftigt, einen Streit zwischen einigen Seeleuten und Soldaten zu schlichten, wobei er zu Boden gedrängt wurde. Ein Aufschrei erfüllte den Saal, und Calder stürzte rasch auf den Fahrkartenschalter zu. Da er die anderen Reisenden überragte und einen größeren Geldschein in der Hand hielt, verkaufte ihm der Bedienstete drei Fahrkarten nach Wladiwostok.
Als sie auf den Zug warteten, fühlte Calder, wie Ana neben ihm zitterte.
»Frierst du?«, fragte er.
»Ich bin wohl nervös«, antwortete sie.
Auch wenn es sicher der wärmste Tag des Jahres in Jekaterinburg war, bedeckte er ihre zitternde Hand mit seinen Pranken. Ohne zu zögern, schob sie ihre verbundenen Hände in seine Manteltasche, als ob sie es schon unzählige Male getan hätte. Es war nur eine Kleinigkeit, doch sie ließ Calders Herz schneller schlagen.
Fast waren sie in Sicherheit, und schon bald würden sie im Zug sitzen, dachte Calder. Keinen kümmerte es, wer sie waren, niemand würde versuchen, sie aufzuhalten.
»He, Junge!« Ein Soldat drängte sich durch die Menge auf Alexis zu und zeigte auf die Beinschiene. »Was hast du da?«
»Nichts«, sagte Calder rasch und versuchte, sich vor den Jungen zu stellen.
Der Soldat drehte den Kopf und brüllte: »Waffe!«
Soldaten kamen herangestürzt, um zu überprüfen, um welche Pistole oder welches Messer es sich handelte. Der erste wollte nach der Schiene greifen, doch Alexis warf sie über die Köpfe der Umstehenden.
Calder zog Ana und Alexis zur Zugtür, während die
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