Seelenhüter
Soldaten der vermeintlichen Waffe nachrannten. Die drei bestiegen den Zug nur wenige Sekunden bevor sich die Räder in Bewegung setzten. Sie drängten sich durch einen schmalen Gang zwischen den Sitzen im ersten Waggon und durch einen noch schmaleren Gang an den Abteilen im nächsten Waggon vorbei. Alexis hatte gerade ein leeres Abteil gefunden, als die Wände um sie herum erzitterten und ein rostiges Quietschen zu hören war.
Als der Zug endlich schwerfällig aus dem Bahnhof fuhr, setzte sich Ana seufzend auf ihren Platz und warf ihrem Bruder einen missbilligenden Blick zu. Alexis kniete auf dem anderen Sitz und lehnte sich bis zur Schulter aus dem Fenster. Calder stand wie ein Wachposten an der Abteiltür.
Die Polster waren schwarz, mit leeren Ablagefächern darüber für Koffer und Gepäck, das Fenster war groß und rechteckig. Calder hatte für einen Moment das unheimliche Gefühl, dass sie aus einem Leichenwagen hinausblickten.
Er setzte sich neben Alexis und beobachtete die auf dem Gang vorbeieilenden Reisenden. Ein Mann, der einen mit einer Schnur verschnürten Schmuckkasten trug, eine Frau, die etwas im Arm hatte, das wie eine in Zeitungspapier verpackte Vase aussah, ein Seemann mit einem verbundenen Arm, ein kleines Mädchen, das einen alten Mann an der Hand führte. So verschieden sie waren, sie wirkten alle traurig.
Calder war müde, doch er durfte nicht einnicken.
»Schlaft, ihr zwei«, sagte er. »Ich bleibe wach.«
»Schlafen?«, sagte Alexis, als ob Calder ein Dummkopf wäre. »Nein, das will ich nicht.«
»Manchmal muss der Geist ruhen«, erklärte er. »Doch wir dürfen nicht alle gleichzeitig schlafen.«
»Warum nicht?«, fragte Ana.
»Weil wir in unserem Zustand …« Er zögerte.
»Tot, aber irgendwie auch nicht tot sind, meinst du das?«, beschrieb es Alexis treffend.
»Ja«, antwortete Calder. »In diesem Zustand schläft man leicht viel länger, als man eigentlich möchte.« Die Kinder starrten ihn an. »Länger, als man glaubt.«
»Weshalb musst du Wache halten?«, fragte Ana.
Er wollte ihnen nichts von der Dunkelheit erzählen, die ihnen folgte. Zumindest jetzt noch nicht. Eigentlich wollte er sagen: »Nur so«, doch er wusste, dass Ana ihm nicht glauben würde.
»Wegen allem«, antwortete er. »Ich bin hier, um euch zu beschützen, bis ihr sicher im Himmel seid.«
Der Zug fuhr ruckartig und zu Beginn so langsam wie eine trottende Kuh. Alexis beschwerte sich, dass sie zu Fuß schneller zum Japanischen Meer kämen. Der Tag war grau, und als sie die Wohngebiete am Stadtrand passierten, rutschte Ana näher ans Fenster und beobachtete die obdachlosen Menschen. Ein junger Soldat, an dessen Uniform die Knöpfe fehlten, rannte neben den Schienen her, als ob er auf den Zug aufspringen wollte, gab jedoch irgendwann auf. Ana kniete sich auf den Sitz, um besser sehen zu können.
Viele Menschen suchten die Fenster nach bekannten Gesichtern ab. Soldaten schoben die Armen beiseite, als wären sie verlauste Köter, die sich in den Straßen herumtrieben. Zwei kleine Kinder, völlig erschöpft vor Verwirrung, wurden von ihren Eltern weitergezogen. Alte Männer, die zu kraftlos waren, um mit ihren Töchtern oder Ehefrauen Schritt zu halten, schienen schon fast tot zu sein, außerdem taub und blind für ihre Umgebung. Eine alte Frau lag im trockenen Gras, schlafend oder bereits tot.
»Schaut nur«, flüsterte Ana. »Es ist wahr, was sie gesagt haben.« Ihre Augen folgten den verzweifelten Menschen.
»So war es früher nicht«, sagte Alexis. »Das ist die Schuld der Deutschen. Und der Bolschewiken.«
»Du hast nie das tatsächliche Russland gesehen«, erwiderte Ana. »Wenn du mit Vater irgendwohin gefahren bist, waren die Wege für euch immer vorbereitet. Du hast nur das gesehen, was du sehen solltest.«
»Und du warst zu Hause, hast Französisch gelernt und Bilder von Obstschalen gemalt.« Das Gesicht ihres Bruders war gerötet. »Wieso glaubst du, mehr über Russland zu wissen als ich?«
Sie blickte ihn nur traurig an. »Sieh dir die Leute doch mal an.«
»Sie haben dem Zaren den Rücken zugekehrt!«
Anas Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. »Man hat ihn gewarnt, dass ein Krieg nur noch mehr Leid bringen würde.« Sie warf Calder einen Blick zu, doch er konnte nichts zur Diskussion beitragen.
»Krieg bedeutet immer Verluste«, erwiderte Alexis.
»Aber es ist nicht nur der Krieg. Die Menschen haben schon gehungert und hatten keine Schulen, bevor du überhaupt geboren
Weitere Kostenlose Bücher