Seelenhüter
»Gleich da drüben bei Nicks Gebrauchtwarenladen, richtig?«
»Ist das einer von den Typen?«, fragte die Frau, die immer noch auf der Veranda saß und sich Luft zufächelte. Ein Mann mit einer Zigarre trat hinter Ana und Alexis. Die ganze Nachbarschaft summte vor Fragen und unwilligem Gemurmel. Sekunden später waren sie umzingelt.
»Keine Panik«, sagte Calder. »Wir sind nur auf der Durchreise.«
»Bleibt von meiner Schwester weg«, befahl Alexis.
Bei dem warnenden Unterton in seiner Stimme drehte sich Ana abrupt um und rief laut: »Wo ist die nächste Klinik?«
Alle verstummten, doch niemand trat zurück.
»Es ist kein Problem, hier bei uns zu stehen«, sagte sie ruhig. »Ich glaube nicht, dass es so ansteckend ist, wie man sagt.«
Die kleine Menge löste sich auf, Calder nahm die Kinder an der Hand und führte sie davon.
Nachdem sie ein paar Blocks gelaufen waren, fanden sie den Bahnhof. Als sie den Beamten am Schalter fragten, wo Filme gedreht wurden und wohin sie fahren mussten, schüttelte dieser seufzend den Kopf, als ob sie dumme Kinder wären. Trotzdem verkaufte er ihnen Fahrkarten und erklärte, an welcher Station sie aussteigen mussten.
Nach den Kämpfen, die sie in Jekaterinburg miterlebt hatten, erschien ihnen Los Angeles seltsam ruhig. Kinder lachten, ein singender Mann mit einem Tamburin sammelte Münzen in seinem Hut, eine ältere Frau ließ ihren Hund Kunststücke für eine Gruppe Soldaten vorführen. Als Calder tief einatmete, fühlte sich die warme Luft an wie der erste Frühlingstag nach einem langen Londoner Winter.
Alexis kniete auf seinem Sitz, um besser aus dem Zugfenster blicken zu können, doch Ana saß nervös auf ihrem Platz, strich ihr Kleid glatt und versuchte, sich den Schmutz von den Händen zu reiben. Sie nahm ihren Hut ab und glättete ihr Haar. Wie Calder mussten sich auch die beiden nicht mehr waschen oder etwas essen. Ihre Kleider wurden mit der Zeit abgetragener, Hände und Füße staubig, doch sie hatten nicht mehr das menschliche Bedürfnis nach Sauberkeit. Dennoch wirkte Ana, als wünschte sie sich verzweifelt einen Spiegel. Sie errötete, als sie Calders Blick bemerkte. Er verstand, dass sie sich hübsch machen wollte. Doch wenn Ilja sie nicht begehrenswert fand, so wie sie war, in einem schlechtsitzenden braunen Kleid und staubig von Kopf bis Fuß, dann verdiente der Kerl nur einen Tritt in den Hintern.
* * *
»Das kann nicht stimmen«, sagte Alexis, als sie ausstiegen.
Sie befanden sich mitten im Nirgendwo, umgeben von Orangen- und Zitronenhainen.
»Wo ist die Stadt?«, fragte der Junge.
Sie schlugen die Richtung ein, in die einige Autos fuhren, entlang einer schmutzigen Straße auf eine Gruppe Eichen zu. Calder hielt einen Lastwagen an, der mit Bindfaden umwickelte Luzerneballen geladen hatte.
»Wissen Sie, wo hier die Filme gedreht werden?«
»Steigt auf«, sagte der alte Mann und deutete nach hinten.
Ana und Alexis setzten sich auf einige Ballen, die auf der Fahrt hin und her schwankten. Calder stand auf dem Trittbrett, hielt sich an der Seite fest und versuchte, durch den Staub, den die anderen Autos aufwirbelten, zu erkennen, wohin die Fahrt ging. Bald wurden die Obstplantagen weniger, und Gebäude bestimmten die Landschaft. Nichts Ausgefallenes, eher Scheunen und Hütten. Musik ertönte, und viele Autos und Lastwagen parkten in Reihen vor dem längsten Gebäude. Der alte Mann hielt und winkte sie von der Ladefläche.
Bevor Calder ihm eine Münze in die Hand drückten konnte, fuhr der Wagen schon wieder quietschend und hustend an. Alexis war sofort ganz verzaubert, doch Ana suchte ängstlich die Gesichter der Männer nach Ilja ab.
Es waren viele. Rotgesichtige Männer in schmutzigen Overalls, die bloßen Arme mit Bulldoggen und nackten Frauen tätowiert, stark geschminkte junge Frauen in Negligés und offenen Morgenmänteln, Burschen in farbverschmierten Jeans, die mit Kisten, Fensterrahmen und Eimern voller Nägel umhereilten, junge Frauen mit Klemmbrettern und Strohhüten, Männer, die Wandteile durch die Gegend trugen, auf die Landschaften gemalt waren und die leicht wie Papier zu sein schienen, Männer, die Schubkarren mit diversen Gegenständen vorbeischoben: eine Tuba, ein Strauß unechter Blumen, ein Fläschchen für einen riesigen Säugling.
Die Fremden sprachen so schnell, dass Calder sie kaum verstand. Sie eilten umher oder standen in den wenigen Schattenflecken zusammen. Jede Nationalität schien vertreten zu sein: Zwei italienische
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