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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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kein Wort hervorbrachte.
    »Unsere Papiere wurden an Bord gestohlen«, sagte Ana.
    »Wir haben nur das hier«, fügte Calder einfältig hinzu und reichte dem Mann hinter dem Schalter den Zettel, den er in Nagasaki bekommen hatte. Er wollte schon ein Schmiergeld anbieten, als man sie aufforderte, zur Seite zu treten.
    »Durch die Tür da und warten.«
    Sie kamen auf einen kleinen Hof, der von einem hohen Stacheldraht umzäunt und bis auf eine enge Bank leer war. Der Ort erinnerte Calder an einen Hundezwinger. Zwei Wachleute behielten sie im Auge, einer am Eingang und einer neben einer offenen Tür, die zu einem Büro führte. Darin saß ein alter Mann an einem überfüllten Schreibtisch und telefonierte, und fast wäre er zwischen zwei hohen Stapeln aus Kassenbüchern und Papieren verschwunden.
    »Sie schicken uns doch nicht zurück nach Russland, oder?«, fragte Ana.
    Der alte Mann legte auf und bedeutete dem Wachmann, den nächsten Fall vorzulassen. Ana und Alexis sollten auf der Bank sitzen bleiben, während Calder in das Büro gebracht wurde. Der alte Mann war dünn, zerfurcht und weißhaarig, doch seine Augen waren zweifarbig grün – das linke waldgrün, das rechte silbergrün. Das war das Entscheidende, denn Calder hatte diese Augen schon einmal gesehen.

21.
    E s war vielleicht ein Jahr vor der Geburt des Zarewitschs gewesen, als Calder diesem Mann an einem Totenbett gegenübergestanden hatte. Der alte Herr war allein mit seiner erwachsenen Tochter gewesen, die Ärzte hatten nichts mehr für sie tun können, und die Mutter war schon seit Jahren tot. Calder würde nie diese Augen vergessen, in die er sehr lange geblickt hatte, denn die Tochter hatte die ganze Nacht gebraucht, um ihre Entscheidung zu treffen.
    Nun stand er vor dem Schreibtisch und sprach leise, damit die Wache am Eingang ihn nicht hören konnte. »Ich bin vom Himmel gesandt«, erklärte er dem alten Mann. »Lilliana ist dort mit Ihrer Frau.«
    Der Alte wollte schon über diesen Verrückten lachen, doch beim Namen seiner Tochter hielt er inne.
    Calder erinnerte sich auch an die geschlossenen Augen der jungen Frau, wie sich die grauen Lider bewegt hatten, als sie den Geschichten ihres Vaters über den Himmel gelauscht hatte – die knospenden Bäume, Vögel in allen Farben.
    »Sie haben Lilliana erzählt, dass dort ein Bach mit goldenen Fischlein wäre und ein Berg voller Sterne«, sagte Calder und versuchte, sich korrekt an die beschriebenen Bilder zu erinnern. »Der Heilige Peter würde sie in einen Mantel aus Pfauenfedern hüllen, und sie würde in diamantbesetzten Schuhen tanzen.« Er beobachtete die Augen des alten Mannes, die erst groß vor Überraschung waren und dann leicht flackerten, als sie einen Fehler hörten. »Nein, keine Diamanten«, sagte Calder. »Saphire.«
    »Ja«, flüsterte der alte Mann.
    Der Seelenhüter nickte zu der Bank hinüber, auf der Ana und Alexis warteten. »Ich muss diese Kinder so bald wie möglich von hier wegbringen.«
    »Ja«, antwortete der Alte. Mehr sagte er nicht, als er die drei durch sein Büro in die Freiheit geleitete.
    * * *
    Der Tag war heiß, die Luft roch nach Teer. Die drei mussten ein ganzes Stück gehen, bis sie einen Ort fanden, an dem sie Geld wechseln konnten. Sie gingen an Fischern vorbei, an Mädchen in maßgeschneiderten Uniformen, Seeoffizieren, halbnackten Frauen mit Papierfächern, die auf offenen Veranden saßen.
    »Wo machen sie die Filme?«, frage Ana eine der Frauen. »Wir müssen wissen, welchen Zug wir nehmen sollen.«
    Anas Englisch war ausgezeichnet, doch sie musste mit einem Akzent sprechen, den Calder nicht hörte, denn die Frau entgegnete: »Wo seid ihr denn her, Schätzchen?«
    Ein drahtiger Mann mit Tätowierungen auf den Armen trat durch eine Gittertür hinter ihr. »Hey!« Er schnippte mit den Fingern in Calders Richtung, als ob dieser ein Hund wäre. »Ihr seid aber nicht welche von diesen Union-Leuten, oder?«
    »Nein«, sagte Calder.
    »Aber ihr seid Russen.«
    »Die Kinder kommen aus Russland, ja.«
    »Kommunisten?«, fragte der Mann.
    Calder war überrascht von seiner Nachdrücklichkeit und antwortete nur: »Nein.«
    Plötzlich kam Leben in die umliegenden Geschäfte – eine Bar mit Namen
Leggy’s,
ein Laden mit Rauchwaren, eine Schusterei –, Gesichter erschienen in den Fenstern, Männer im Unterhemd und Frauen mit Bierflaschen stellten sich in die Türeingänge, um nichts zu verpassen.
    »Ich habe von dem Treffen letzte Woche gehört«, rief ein Mann.

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