Seelenhüter
versuchte, den Dämonenrauch von seiner Kleidung und aus seinem Haar zu bürsten. Am anderen Ende des Ganges konnte er immer noch einen schwarzen Schatten ausmachen.
»Fanny wurde sogar verwundet, und die anderen beiden waren krank, aber sie reisen jetzt zurück nach Frankreich«, erzählte Ana. »Sie arbeiten an der Front und übersetzen Kampfkommandos.«
Calder ging vor ihr her durch den Zug, seine Gedanken allein bei Alexis. Im dritten Waggon fand er den Jungen, der sich mit einem jungen Mann mit einer karierten Schirmmütze unterhielt.
»Wir sind in einem fahrenden Zug«, rechtfertigte sich Alexis. »Ich werde schon nicht verlorengehen.«
Ana und Calder setzten sich auf die gegenüberliegende Seite des Ganges.
Der junge Mann hatte eine kleine Maus, die über seine Schultern und in seine Hemdtasche krabbelte. Er sprach aufgeregt über seine politischen Ansichten, während das Tier über seinen schmutzigen Hals in den Kragen kletterte. »So war es immer schon«, sagte er strahlend. »Es war immer ein Klassenkampf.«
Die Maus stellte sich auf der Schulter ihres Herrchens auf und witterte.
»Wenn eine Gruppe Macht über eine andere ausübt, weißt du, wie Sklaven und Herren«, sagte der junge Mann, »wenn die Oberschicht die Arbeiterklasse unterdrückt, dann muss sich der kleine Mann irgendwann erheben und sich zurückholen, was ihm gehört.«
Er trug geflickte Tweedhosen mit einer Schnur als Gürtel und ein weites Hemd, das früher einmal weiß gewesen sein mochte. In der Hand hielt er ein kleines Buch voller Eselsohren, dessen roter Umschlag bereits braun geworden war und das man wie den Griff eines Hammers in der Hand zusammenrollen konnte.
Calder fürchtete, dass die Unterhaltung abgleiten könnte – der Fremde erzählte Alexis immerhin, dass die Revolutionäre, die seinen Vater zur Abdankung gezwungen und schließlich ermordet hatten, im Recht gewesen waren. Er fragte sich, ob Alexis vielleicht nicht alles verstand.
»Darf ich mal?«, fragte der Junge. Er streckte den Handrücken aus, und die kleine graue Maus kletterte zögernd auf der Suche nach Krümeln seinen Ärmel hinauf und wieder zurück. »Wie heißt sie?«, wollte er nun wissen.
»Max.«
»Max«, wiederholte der Junge. »Heißt das ›groß‹«?
»Man muss keinen großen Körper besitzen, um einen großen Geist zu haben.« Der Mann lächelte. »Er mag dich.«
»Ich heiße Alexis.« Er lachte verzückt, als die Maus versuchte, unter seinem Hemdsärmel seinen Arm hinaufzulaufen. »Wie heißt du?«
»David.«
»David war ein kleiner Mann, der einen Riesen besiegt hat.«
»Siehst du?«, sagte David. »Wie ich es gesagt habe.«
»Willst du alle Könige einen Kopf kürzer machen?«, fragte Alexis.
Calder versteifte sich und war drauf und dran, seinen Schützling zu sich zu rufen, doch das war nicht nötig.
»Ich?« Ein leichtes Lächeln umspielte Davids Mund. »Ich will ihre Schlösser zurück, sie in Arbeitskleider stecken und ihnen das Angeln beibringen.«
Alexis lachte. »Das Angeln?«
»Oder Stühle zu schreinern oder Stücke zu schreiben. Irgendwas Nützliches.« Er grinste. »Es ist wunderbar, jung und lebendig zu sein, oder?« Er pfiff leise, und die Maus sprang auf seine Mütze. »Wenn die Macht von den Monarchen auf die Menschen übergeht.«
Zu Calders Überraschung war Alexis nicht beleidigt.
Am Ende half David ihnen, einen der Smaragde zu verkaufen und dafür gefälschte Pässe zu erwerben.
Als sie in New York eintrafen, führte der junge Mann sie vom Bahnhof, der noch größer und schöner war als der in Kalifornien, über die Docks in die heruntergekommenen Straßen dahinter. Es ging durch ein Labyrinth von Gassen, durch das Calder allein nie zurückfinden würde.
Er hoffte, dass der Dämon, der ihn im Zug heimgesucht hatte, ihre Spur verloren hatte, doch er konnte immer noch Schatten sehen, wie dämonische Diener, die ihm am Rand seines Sichtfeldes folgten. Die Kinder gingen im Gänsemarsch hintereinander zwischen hohen Gebäuden hindurch, die so eng beieinanderstanden, dass das Sonnenlicht den Boden nicht erreichte. Wäscheleinen waren von Apartment zu Apartment gespannt, auf den Feuerleitern standen Matratzen und halbbekleidete Kinder mit schmutzigen Gesichtern. In manchen Gassen hatten die Menschen mit Holzbrettern Plattformen von Fenster zu Fenster gebaut. Die enge Straße senkte sich zur Mitte hin, wo sich tiefe Pfützen gebildet hatten. An einer besonders tiefen Stelle hatte jemand eine leere Milchkiste
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