Seelenhüter
der Stärke und der Aufrichtigkeit ihrer Vorfahren. Außerdem erzählte er Alexis von Peter dem Großen.
»Der Zar war über zwei Meter groß«, sagte der Alte. »Er reiste um die ganze Welt, und als er zurück in seine Heimat kam, schnitt er den Adeligen die Bärte aus den Gesichtern. Er hat auch das Alphabet geändert und Städte erbaut.«
»Mein Vater fand, dass Peter zu viele russische Traditionen abgeschafft hat«, erwiderte Alexis. »Und dass er zu sehr von Europa begeistert war.«
Der alte Mann lachte laut auf und musterte den Jungen. »Wer ist dein Vater?«
»Er ist tot.«
»Das tut mir leid. Mein Vater ist auch tot.«
Ana lernte ebenfalls rasch neue Leute kennen und unterhielt sich mit einem wohlhabenden Ehepaar, das den Sternenhimmel bewunderte. Die Frau schenkte ihr eine ausgelesene Zeitschrift voller Fotos von Filmstars. Calder saß etwas abseits und überlegte, während er die beiden im Blick behielt, wie er vorgehen sollte, nachdem er die Kinder zu ihren Verwandten gebracht hatte. Er würde sich an einen verlassenen Ort zurückziehen, weit weg von den Sterblichen, und die verlorenen Seelen heraufbeschwören. Er beherrschte noch andere Kunststücke als jene, die er im Zug nach New York angewendet hatte. Kannte andere Wege, um einen Dämon zu entmachten. Wenn er sich doch nur daran erinnern könnte.
Als sie sich in ihre enge Kabine zurückzogen, schloss Calder vorschriftsmäßig den Vorhang vor dem Bullauge, ließ jedoch die kleine Lampe die ganze Nacht brennen. Er wollte nie wieder schlafen. Ana und Alexis lagen wie zuvor in einem Bett und blätterten die Zeitschrift durch, während Calder auf dem anderen saß. Die Kinder nickten bald ein, und dabei fiel die Zeitschrift von Anas Schoß. Sie öffnete sich auf einer Seite in der Mitte, wo eine Anzeige für Seife abgedruckt war. Eine Frau mit hellem, wallendem Haar beugte sich über einen pausbäckigen Säugling, der die Hände nach ihrem perfekten Gesicht ausgestreckt hatte.
Dieses idyllische Bild rief eine Erinnerung bei Calder wach, von einem Ort, der weiter als England, Russland oder sogar der Mond entfernt war. Kurz darauf wurde das Licht in der Kabine von seiner Blindheit geschluckt, und er war wieder unter der Brücke und wartete auf die goldene Fee.
26.
D er Junge, der einmal Calder gewesen war, ein Bursche von nicht einmal zehn Jahren und zaundürr, saß allein in der eiskalten Nacht. Zitternd summte er unter der Brücke, die er sein Zuhause nannte, und träumte von ihr. Er wusste, dass es so etwas wie Feen nicht gab, aber das war ihm egal.
Morgen könnte sie kommen,
dachte er.
Warum nicht? Es könnte genauso gut morgen sein wie übermorgen oder nächstes Jahr. Jeder Tag, den ich gewartet habe, bringt mich näher an den Tag, an dem die goldene Fee zu mir kommen wird.
Er stellte sie sich ganz in Weiß vor, mit lächelnden Augen und goldenem Haar, das ihren Kopf wie ein Heiligenschein umgab. Sie würde in einer glänzenden Kutsche sitzen, sich aus dem Fenster lehnen und ihn sofort erkennen. Sie würde vor Freude weinen, ihn in einen Pelzmantel hüllen und ihn in ein großes, warmes Haus bringen, in dem es nach frisch gebackenem Brot und gebratenem Fleisch roch.
Calder erinnerte sich genau an diese Gedanken – so genau, dass er die eisige Kälte wie Nadeln und den nagenden Schmerz des Hungers spürte. Er hatte sich hinter eine Holzkiste gekauert, die ihm Schutz vor dem Wind bot, und seine Tunika wie ein Zelt um sich drapiert. Schmutzige Lumpen, die er am Tag nicht angefasst hätte, hatte er sich um den Hals geschlungen. Die Knie hatte er bis unters Kinn gezogen, die Arme fest darum geklammert, und er sang, auch wenn niemand in der Nähe war, der ihn hätte hören können.
Rückblickend schämte er sich dafür, dass er sich so sehr an seinen Glauben an die goldene Fee geklammert hatte, dass dieser ihm sogar bis in den Tod gefolgt war, denn ganz sicher hatte er sich Liam deswegen als Engel im weißen Gewand vorgestellt. Auch Alexandra war ihm deshalb so bekannt vorgekommen. Sie war die perfekte goldene Fee gewesen, und er hatte die Sieben Gebote wegen dieser Torheit gebrochen. Als Junge war er oft so hungrig und durchgefroren gewesen, dass er es nicht wagte, nachts einzuschlafen, aus Angst, er könnte vor Tagesanbruch sterben und dann in der Hölle aufwachen wegen all der Dinge, die er gestohlen hatte. Die düsteren Gedanken ließen ihn nicht einschlafen. Doch wenn er sich die goldene Fee vorstellte, dachte er:
Nur noch eine Nacht. Du
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