Seelenhüter
hatten.
»Wir wollen Frieden«, erklärte ihm die Kreatur. »Verrate uns das Geheimnis.«
Calder übernahm die Rolle des verstorbenen Kindes. »Papa?«, sagte er leise. »Mama?«
Eine sterbliche Stimme antwortete, leise wie ein Seufzen. »Wo bist du?«, fragte sie auf Rumänisch. Ein Augenpaar löste sich aus dem Wesen, zusammen mit dem Schatten einer jungen Frau. Den verlorenen Seelen erschienen die Begleiter fast nie als wohlwollend – ihre Angst, Trauer und Verwirrung führten sie in die Irre, weshalb sie Gespenster, wilde Tiere und Monster sahen. Calder wollte der Frau helfen, ihren bereits wartenden Begleiter zu finden, doch auf einmal flog sie davon, auf der Suche nach ihrem kleinen Mädchen. Der Dämon brüllte wütend auf und hustete eine Wolke grauen Gestanks hervor.
»Gib uns den Schlüssel!«
Das war gut. Das Wesen war noch neu genug, um auseinandergerissen zu werden. Und es sagte immer noch »wir« anstatt »ich«.
»Ihr alle«, sagte Calder bestimmt, »verschwindet!«
»Wir werden dir weh tun«, sagte das Wesen, »ebenso jedem, der bei dir ist. Wir können den ganzen Wagen auf einmal verschlingen.«
»Ihr lügt«, sagte Calder. »Ihr seid nicht stark genug.«
Die Kreatur verzog das Gesicht zu einem entstellten Grinsen. »Fast schon stark genug«, erwiderte sie höhnisch.
Der Seelenhüter erinnerte sich an eine andere Strategie. »Ihr seid also männlich, oder?«
Das war der häufigste Streitpunkt bei einem sich in der Entstehung befindlichen Dämon, da einige der Geister sich immer noch dem Geschlecht verbunden fühlten, das sie als Sterbliche innegehabt hatten.
Die Kreatur versuchte zu antworten, doch die Worte vermischten sich miteinander. Zwei andere Schatten spalteten sich ab und entschwebten in einen unsichtbaren Korridor.
»Wie heißt ihr?«, fragte Calder.
Das Wesen schüttelte sich, als ob es etwas loswerden wollte, und antwortete wieder auf Latein. »Wir haben keinen Namen.« Es schien zu schrumpfen, und Calder hoffte schon, es verschwände, doch dann bäumte es sich wieder zu voller Größe auf. »Ich weiß meinen Namen.« Nun sprach das Wesen Französisch, klang fast menschlich und furchteinflößend selbstsicher.
Der Seelenhüter antwortete nicht in derselben Sprache, sondern wieder auf Latein. Der neue Anführer war noch nicht mächtig genug, was er sich zunutze machen wollte. »Der, den du als Sprecher erwählt hast, will dir nicht helfen«, sagte er. »Er ist schwach und wird versagen.«
Das Wesen kam auf Calder zu, als ob es ihn schlagen wollte, doch seine Fäuste ließen es im Stich. Gesicht und Brust bewegten sich nach vorn, während die Arme nach hinten gerissen wurden und in der Luft ruderten. Ohne es zu wollen, trat Calder einen Schritt zurück und setzte sich neben Ana und Alexis. Die Kreatur stieß wüste Flüche in verschiedenen Sprachen aus, löste sich aber nicht vollkommen auf. Sie knurrte und kämpfte, bis sie sich in das Land der verlorenen Seelen zurückzog. Calder wachte auf und fand sich allein in dem Zugabteil wieder. Ana und Alexis waren verschwunden.
* * *
Der Seelenhüter wollte liebend gern glauben, dass er nur schlecht geträumt hatte, doch an der Decke über der Stelle, an der das Wesen gestanden hatte, war noch Ruß zu sehen. Ein Rauchfaden zog aus dem Abteil durch den Zug und hing beinahe unsichtbar über den Köpfen der Reisenden.
Der Dämon ist noch nicht stark,
sagte sich Calder.
Doch er könnte es bald sein. Außerdem könnten da noch andere sein.
Er wäre auch durch hundert Waggons gerannt, einen zehn Meilen langen Zug entlang, um die Kinder zu finden, doch schon im nächsten Waggon, zwei Reihen von der Tür entfernt, saß Ana bei drei anderen jungen Frauen und unterhielt sich, als wären sie die besten Freundinnen. Die Mädchen trugen marineblaue Uniformen und roten Lippenstift und hatten Anas kurzes Haar zur Seite frisiert. Sie lächelten offen, mit warmen Augen. Auch wenn sie vom Äußeren her Anas Schwestern nicht ähnelten, wusste Calder, warum sich Ana zu ihnen hingezogen fühlte. Als sie ihn bemerkte, verabschiedete sie sich, und die Mädchen winkten ihr fröhlich nach.
»Ich wollte dich nicht wecken«, sagte sie. »Ich habe ein paar Übersetzerinnen kennengelernt. Sie sind furchtbar nett. Was ist passiert? Du riechst wie ein Kamin.«
Calder zitterte immer noch von seiner Heimsuchung. »Wo ist dein Bruder?«
Ana blickte ihn überrascht an. »Ist er nicht bei dir?«
»Wir müssen zusammenbleiben«, flüsterte Calder. Er
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