Seelenhüter
»Wir werden uns heute Abend in irgendeiner dunklen Taverne verstecken und unser neues Leben entwerfen. Wir werden Arbeit finden. Wir können Bücher lesen. Musik hören. Selbst tanzen.« Sie nahm noch einen langen, tiefen Atemzug, bevor sie weitersprach. »Wir werden ein Cottage auf dem Land mieten oder eine Wohnung in London«, sagte sie. »Nachts, wenn wir allein sind, werden wir uns erinnern.« Da übermannten sie wieder die Tränen.
Alexis seufzte und rieb sich das Kinn. »Ich hätte gern irgendwann einen Bart gehabt.«
Calder stellte sich den Vater des Jungen vor, das freundliche, bärtige Gesicht von Nikolaus, wie er auf dem Bett in Jekaterinburg lag. Er wünschte, er wäre Liam und könnte einem vaterlosen Jungen den Trost spenden, den er brauchte. »Wenn ich Seelen an den Großen Fluss bringe und sie den Captain zum ersten Mal sehen«, begann er, »erscheint er manchen als großer Krieger und anderen als pausbackiger Engel, aber egal in welcher Gestalt, er kann jeden mit einem Blick das Fürchten lehren.«
»Wie?«, fragte Alexis.
»Weil sein Geist mächtig ist.«
Der Junge zögerte einen Moment, dann lächelte er, als ob er die Geste würdigte, auch wenn er nicht daran glaubte. Ein warmer Wind wehte durch den Wald und schien Ana zu beruhigen – ihre Tränen trockneten. Sie zog die Dose hervor und puderte sich und ihren Bruder gründlich. Der Wind wäre auch für Calder tröstend gewesen, doch er roch nach verlorenen Seelen.
Schließlich gingen die drei schweigend zurück zur Straße. Ana atmete hastig in kurzen Atemzügen, hielt die Ellbogen umklammert und starrte ins Nichts. Die Haare standen ihr in kleinen Stacheln vom Kopf ab, den Hut hatte sie in Johnnies Cottage vergessen.
Calder wollte ihre Hand nehmen, war aber zu schüchtern. Das Mädchen ging zwischen den beiden, doch noch eine andere Gestalt begleitete sie. Ein Schauer überlief Calder, als er es bemerkte. Er blieb stehen, ebenso wie die anderen, und die dunkle Gestalt neben Alexis’ linker Schulter tat es ihnen nach.
»Was ist los?«, fragte der Junge.
»Jemand ist hier«, flüsterte Calder.
Ana verschränkte ihre Finger mit seinen.
»Wer?«, fragte ihr Bruder.
Die Gestalt war nun vollständig sichtbar, wenn auch sehr viel dunkler als Ana oder Alexis und leicht durchsichtig. »Seht ihr ihn nicht?«, fragte der Begleiter.
»Nein«, flüsterte Ana.
Das Gesicht war vertraut, die Augen traurig. Er trug ein weißes Matrosenhemd. »Nagorny?«, fragte Calder. Obwohl er den Blick fest auf die verlorene Seele gerichtet hielt, merkte er, wie sich Alexis vor Angst anspannte.
»Ja«, erwiderte Nagorny mit leiser Stimme.
»Du bist zurück«, sagte Calder.
Der tote Mann schien sich zu entspannen und zu freuen, dass er jemanden zum Reden hatte. »Ich bin durch die Zimmer gelaufen, in denen sie die ganze Familie festgehalten haben«, sagte er. »Es waren nur Soldaten dort, und man hatte die Wand abgerissen. Den Schlüssel haben sie weggeworfen.«
Ana und Alexis beobachteten den Fleck, mit dem sich Calder unterhielt, offensichtlich nahmen sie nichts wahr.
»Jetzt hast du deinen Jungen gefunden«, sagte Calder.
Ana gab ein leises Geräusch von sich, vielleicht aus Angst, vielleicht aus Mitgefühl.
»Ja«, erwiderte Nagorny, »er und seine Schwester strahlten weit über das Meer hinweg wie Engel. Dann wurden sie dunkel wie ausgeblasene Kerzen. Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, sie zu finden.«
»Du hast sie von Russland aus gesehen?«, vergewisserte sich Calder. Er war sich nicht sicher, ob das gute Neuigkeiten waren. Hatten etwa alle verlorenen Seelen die leuchtenden Kinder über den halben Erdball sehen können, bevor sie sich bedeckt hatten?
Der Mann stellte sich aufrecht hin. »Es wird nicht noch einmal vorkommen. Ich werde von jetzt an für immer an seiner Seite sein, außer Sie befehlen etwas anderes.«
Die Schatten um sie herum erbebten und flackerten vor unnatürlicher Aufregung. »Sind immer noch andere hier«, flüsterte Calder, »die uns Böses antun wollen?«
»Ja«, antwortete Nagorny. Die Schatten schlossen sich enger um die Gruppe.
Zögernd streckte Alexis die Finger nach seinem toten Gefährten aus. Beiläufig legte Nagorny dem Jungen eine Hand auf den Rücken.
»Kannst du uns beschützen?«, fragte Calder.
»Wir haben uns immer um Alexis gekümmert.«
»Wir?«
»Vater Grigori ist auch hier«, antwortete Nagorny.
Calder spürte Rasputin, bevor er ihn sah. Der Russe stand grinsend hinter einem Baum in
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