Seelenhüter
gedacht zu haben.
»Wir könnten so zurückreisen, wie wir gekommen sind«, schlug Alexis vor. »Über den Atlantik, New York, Kalifornien, Japan …«
Die Vorstellung, diese ganze Strecke noch einmal zurückzulegen, war unerträglich.
»Ihr könntet segeln«, meinte die Frau schulterzuckend. »Nach Norden. Auch wenn jeder Kapitän verrückt wäre, darauf einzugehen.« Sie grinste.
Mit ihrer wettergegerbten Haut und dem fehlenden Zahn erinnerte sie Calder an einen Piraten, was ihn auf den Gedanken brachte, ein Boot in London zu mieten und über die Themse und den Kanal bis zur Nordsee zu segeln. Deshalb bestiegen sie kurz darauf auch einen Zug nach London und nicht nach Portsmouth. Erst als sie sich den Surrey Docks näherten, erkannte Calder, dass er das Boot von Pinchers Familie vor Augen gehabt hatte, das seit Jahrhunderten nicht mehr existierte. Doch einen besseren Plan hatten sie nicht.
* * *
Calder war als Begleiter schon viele Male in London an Sterbeorten gewesen, weshalb es nicht sein erster Besuch in seiner ehemaligen Heimatstadt war, allerdings ging er zum ersten Mal seit seiner Zeit als Mensch am Hafen entlang. Viel hatte sich verändert, aber er spürte, dass sich das alte London ganz dicht unter der Oberfläche der neuen Stadt verbarg. Risse im Gehweg, die leichte Biegung einer engen Straße, die Verstecke zwischen den Piers, wo Seepocken die Unterseite der Holzplanken wie den Panzer einer Krabbe aussehen ließen. All diese Dinge hatten sich kaum verändert, alles Neue verschmolz mit jedem Blinzeln mit dem Geist des Alten. Dort hatte Pincher auf der Bordsteinkante gesessen, doch kurz darauf war er weg. Dort lag ein Apfelgehäuse mit noch so viel Fruchtfleisch daran im Rinnstein, dass es sich gelohnt hatte, es aufzuheben, doch während Calder die Hand nach unten bewegte, war es auch schon verschwunden, und nur ein Stück Zeitung lag an seiner Stelle.
Natürlich waren überall moderne Menschen auf den Straßen – Krankenschwestern in weißen Uniformen schoben Soldaten in Rollstühlen, Jungen schlängelten sich auf staubigen Fahrrädern durch die Menge, Frauen gingen rauchend vorbei, mit kurzgeschnittenen Haaren und eine sogar in Hosen.
Doch sobald Calder blinzelte, sah er das Bild einer Frau in einem historischen Gewand mit einem Umhang, die gerade aus einer offenen Kutsche stieg. Als er die Augen wieder öffnete, verwandelte sich die Dame in ein Mädchen in einem Kostüm, das aus einem Auto stieg. Seine Ohren ließen ihn ebenfalls im Stich. Die Musik aus einem nahen Gasthaus wurde zu Melodien aus seiner Kindheit. Klaviermusik von Victrolas und jazzige Posaunen wichen Harfen und Flöten, bis Calder den Kopf neigte, um die Geräuschfetzen besser zu hören, und diese verschwanden. Nur die Gerüche waren beständig, als ob sie sich seit dreihundert Jahren nicht verändert hätten: Bratfett und Zwiebeln, gesalzener Fisch, Ale, Kohlenrauch und Pfeifentabak.
Der Seelenhüter blieb stehen und schloss die Augen, bis Pincher vor seinem geistigen Auge erschien und über die Londoner Docks streifte. Der Junge sprang über den Bug auf das Schiff seiner Familie und verschwand im warmen Inneren. Als Kind hatte Calder ihn beneidet: das schwimmende Heim, die laute, fröhliche Familie. Wenn er sich nicht für seine Obdachlosigkeit geschämt hätte, hätte er gewiss Unterschlupf bei ihnen gefunden, aber das war lange her.
Calder wusste, wo er abbiegen musste, und führte die beiden Kinder bis zum Ende des Hafens, wo die Schiffe kleiner wurden und enger beieinanderlagen.
»Früher lebte hier eine Familie irischer Seehändler.«
»Piraten?«, fragte Alexis.
»Sie waren Fischer, Händler, Geschichtenerzähler.« Er entdeckte eine vertraute Brücke zwischen zwei Piers. In der Dunkelheit erklang ein Geräusch, das er gut kannte, als wenn Wasser ans Ufer schwappte.
Als die drei die Ecke einer Steinmauer und den faulenden Zaunpfahl erreichten, erinnerte er sich klar und deutlich an das Boot – zehn Schritt lang, drei breit, aus dunklem Holz, zwei Masten und Sturmlaternen, die an Ketten hingen. Er hatte den Geist des Schiffes deutlich vor Augen, und die Vision verschwand auch nicht, als er blinzelte. Das Boot in seiner Erinnerung schaukelte vielmehr sanft am Ankerplatz, und ein blauäugiger Mann trat aus der Kajüte.
»Seht ihr es?«, fragte Calder die Kinder.
»Das kleine Segelboot, das jeden Moment untergeht?«, erwiderte Alexis.
»Habt ihr euch verlaufen?« Der junge Mann hatte schwarzes Haar, blasse Haut
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