Seelenjäger: Die Jagd beginnt (German Edition)
Jedenfalls wollte ich ihn mit ins Dorf nehmen, doch er hatte sich geweigert. Er meinte, ich könne ihn am nächsten Tag wieder an derselben Stelle im Wald treffen, wenn ich wollte. So vergingen einige Tage, an denen wir uns trafen und miteinander spielten. Eines Tages kam er allerdings nicht zum vereinbarten Treffpunkt. Plötzlich hatte ich Schreie vernommen und war ihnen gefolgt. Ich wurde Zeugin von dem Tod des Jungen: Ein Waldräuber oder Ähnliches hatte ihn an einen Baum gefesselt und auf ihn eingeschlagen. Er hatte den wehrlosen Jungen tot geprügelt.
Ich zitterte am ganzen Körper, als sich die Bilder ein weiteres Mal vor meinen Augen abspielten.
Erst als Alec mich in den Arm nahm und somit mein Blickfeld blockierte, sodass ich die Seele des Jungen nicht mehr sehen konnte, konnte ich wieder einen klaren Gedanken fassen. Verstört sah ich Alec an.
„Ich hätte ihm helfen können! Aber ich hab nur dagesessen und zugesehen, wie er tot geprügelt wurde!“ Meine Stimme war nur ein Krächzen.
Alec nahm mich noch fester in den Arm und ich drückte mich dankbar an seine Brust. Er schwieg und doch fühlte ich mich, als würde er mir tröstende Worte zuflüstern.
„Ich hab ihn sterben lassen!“, flüsterte ich.
Ich schloss die Augen und versuchte mich auf Alecs Atem zu konzentrieren. Auf das Ein- und Ausströmen der Luft in seiner Lunge, auf das Heben und Senken seiner Brust. Es beruhigte mich mehr als jedes Wort. Ich spürte eine wohlige Wärme, die sich von Alec her ausbreitete. Ich fragte mich, wie seine Haut manchmal eiskalt und dann plötzlich angenehm warm sein konnte.
„Alec!“ Die Stimme gehörte einem Mädchen.
Der Gerufene drehte sich blitzartig um und ich knallte beinahe gegen seinen Rücken, als er mich so plötzlich losließ. Ich lugte über seine Schulter. Vor ihm stand die Seele eines Mädchens, das nur wenig kleiner war als er. Sie hatte langes, welliges Haar und strahlende Augen. Ihr dünner Körper wurde von einem schmutzigen Kleid umhüllt.
Ich wollte gerade fragen, wer sie war, doch Alec kam mir zuvor.
„Emilia!“, hauchte er kaum hörbar.
Jetzt verstand ich. Ihretwegen hatte Alec mit mir eine Vereinbarung getroffen und ihretwegen hatten wir den weiten Weg hierher gemacht. Es freute mich, dass Alec seine Schwester noch einmal sehen konnte, doch nun fiel mir wieder ein, was ich gelernt hatte.
Eine Seele, die bei den Ruinen der Seelen haust, kann keinen Frieden finden. Alle Seelen kommen irgendwann in die andere Welt, geleitet von den Geistern. Doch wenn jemand die Seele eines Verstobenen nicht vergessen kann, wenn er sie nicht loslässt, dann wird sie niemals erlöst. Sie kann niemals in die andere Welt gelangen, da sie von den Lebenden festgehalten wird. Doch jede Seele muss eines Tages gehen.
Daher müssen die Lebenden die Verstorbenen loslassen und ihnen oder sich vergeben, sodass die Seele diese Welt verlassen kann.
Der Junge war also noch hier, da ich ihn nicht vergessen konnte. Ebenso Emilia.
Nun fielen mir auch wieder die letzten Worte meiner Großmutter ein, die sie mir sagte, bevor sie starb: „Eine Seele ist mehr als nur die Überreste eines Lebewesens, sie ist das ganze Sein. Sie ist das Bewusstsein, der Charakter, das Wesen, sie ist alles, was eine Person ausmacht. Und wenn man stirbt und die Seele nicht gleich in die andere Welt kommt, sondern zu den Ruinen, dann ist es die Pflicht aller, die an ihr festhalten, dass sie sie gehen lassen. Man hat nur ein begrenztes Leben, doch die Seele lebt ewig weiter. Und damit sie auch ihren Frieden finden kann, müssen alle sich und ihr vergeben. Nur dann ist ein Übergang in das ewige Leben möglich. Wenn eine Seele jedoch nicht losgelassen wird, zerfällt sie und geht über zu den Schatten.“
Unsere Pflicht ist es nur, zu vergeben. Der Rest funktioniert auch ohne uns.
„Alec?“, fragte ich vorsichtig.
Er zuckte nur leicht, ansonsten wich er keinen Millimeter. Noch immer sah er seine Schwester an, sie lächelte sanft. Da er nicht wirklich reagierte, ging ich um ihn herum auf die anderen Seelen zu. Ich hatte ein bestimmtes Ziel.
Der Junge schien mich wiederzuerkennen. Als er mich erblickte, zuckten seine Lippen zu einem kleinen Lächeln. Ich holte tief Luft und wollte mich endlich entschuldigen. Dass ich ihm nicht geholfen hatte und er nun tot war. Doch er reckte sich zu mir hoch und legte mir seinen dünnen Finger auf die Lippen, bevor ich sprechen konnte.
„Hallo, Jaqueline! Es freut mich, dich zu wohlauf zu
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