Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
von dannen.
Ich steige in mein Auto und bleibe lange regungslos sitzen. Das, was ich gerade erlebt habe, ist für mich das perfekte Sinnbild für die menschliche Existenz. Es gibt in jedem Leben viele solcher Momente, in denen man genau so wie dieser Bürobote plötzlich Feuer fängt und von dem brennenden Verlangen beseelt wird, etwas ganz Besonderes zu tun; seinen Rubikon zu überschreiten und so weiter. Man könnte sich einen anderen Job suchen, eine neue Freundin
zulegen oder in ein anderes Land gehen und ganz neu anfangen. Mit einem Wort, etwas verändern.
Mit diesem Gedanken lebt man ein paar Tage oder Monate. Aber dann schiebt er sich mehr und mehr in den Hintergrund. Und man begreift, dass es sinnlos ist, sich abzustrampeln, dass sich sowieso nie etwas ändern wird. Man klebt an seinem alten Leben fest, verfängt sich in dem Netz verstaubter Lebensweisheiten à la »Schuster bleib bei deinem Leisten«, die dem Menschen von Geburt an die Flügel stutzen. Vor allem können wir immer die Umwelt für unsere Untätigkeit verantwortlich machen, unsere autoritäre Erziehung und die alten Prinzipien, die uns unsere Eltern von klein auf eingebleut haben: Bloß nichts Unüberlegtes tun. Aber vielleicht ist es ja auch besser so. Ein Leben ohne größere Erschütterungen oder Gesundheitsrisiken, ruhig und bedächtig, weil ohnehin alles vorherbestimmt ist. Und so entstehen dann diese Heerscharen von Büroboten, die sich selber auf ein Ziel zu schleppen, das sie »Schicksal« nennen, in der Hoffnung, vom Adressaten ein kleines Trinkgeld zu empfangen. Nur ist das Schicksal nicht besonders freigiebig mit Trinkgeld. Im besten Fall reicht es für ein paar neue Schuhe, wenn man die alten bei der ganzen Herumrennerei abgewetzt hat. Passivität und Willenlosigkeit sind die beiden großen Geißeln der mittelrussischen Tiefebene.
Und doch: Es gibt Menschen, die diesem beengten Leben entkommen, die sich plötzlich ihre Blondine im Fahrstuhl schnappen. Haben die einfach bloß Schwein gehabt?
Ich gebe es zu: Diese beschissenen Klugscheißereien haben nur den Zweck, mir selber in den Arsch zu treten, endlich den entscheidenden Schritt zu tun. Den Beschluss,
irgendetwas zu tun, habe ich immerhin schon gefasst. Es fragt sich nur, ob ich mich in die richtige Richtung bewege.
Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und wähle Mischas Nummer. Nach ein paar Rufzeichen nimmt er ab.
»Hallo, Mischa.«
»Grüß dich, Alter! Wie sieht’s aus?«
»Alles paletti. Danke noch mal wegen gestern.«
»Ach, hör schon auf. Wie oft soll ich mir das noch anhören? Vergiss es endlich.«
»Sag mal, Mischa, wir haben doch gestern über deinen neuen Club gesprochen.«
»Und, hast du darüber nachgedacht?«
»Ja, ich würde mir gern mal die Räume angucken, mit einem Freund von mir. Wenn mir miteinander auskommen, können wir gleich alles klarmachen.«
»Und was ist das für ein Freund?«
»Vadim. Er arbeitet in der Tabakbranche. Wahrscheinlich kennst du ihn sogar.«
»Smirnow?«
»Ja.«
»Klar kenn ich den, gut sogar. Der ist in Ordnung. Wann wollt ihr kommen?«
»Wie wär’s so gegen sieben?«
»Das passt.«
Ich schreibe mir die Adresse auf, verabschiede mich und rufe anschließend Vadim an, um unsere Verabredung zu bestätigen. Dann telefoniere ich mit meinem Büro, lasse mir die Neuigkeiten durchgeben und erfinde einmal mehr irgendwelche geheimnisvollen Außentermine. Verspreche, um sechs Uhr vorbeizukommen. Verspüre nicht den geringsten
Wunsch, zur Arbeit zu gehen. Dafür habe ich riesige Lust, etwas zu trinken, aufs Land zu fahren und über irgendetwas Hochgeistiges zu quatschen. Ich stecke mir eine Zigarette an und beschließe, Jula anzurufen, eine Bekannte von mir, die seit über einem Jahr meine Gesprächspartnerin für solche Fälle ist, gleichzeitig meine Psychotherapeutin und Gegenstand der Verehrung aus sicherer Distanz, wenn man das so sagen kann. Eigentlich ist sie die einzige Frau, die ich kenne, mit der ich es mir nicht durch penetrante Anmache verderben möchte. Obwohl ich ansonsten nichts dagegen hätte. Manchmal, vor allem, wenn ich einiges getankt habe, denke ich, es wäre doch allmählich Zeit, diese Beziehung von der Ebene platonischer Anhimmelung auf die Ebene körperlicher Nähe zu verlagern, aber jedes Mal kommt irgendetwas dazwischen. Bestimmt leben wir schon so lange in diesem Zustand der Unberührbarkeit, weil die Vorsehung beschlossen hat, es müsse in meinem Leben etwas geben, das sich grundsätzlich von meinen
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