Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
üblichen Gelegenheitsund Bettbeziehungen unterscheidet. Oder es ist ganz einfach noch nicht dieser wunderschöne Augustabend gekommen, an dem die Emotionen über das Geistige obsiegen und mich in einem Strudel der Leidenschaft hinwegreißen. Auf diesen Abend warte ich sehnsüchtig, auf der anderen Seite habe ich auch riesigen Schiss davor. Denn ich weiß nicht, ob ich diesem ganz besonderen Abend gewachsen sein werde.
Wir verabreden uns in einer halben Stunde an den Patriarchenteichen, und ich klettere wieder in mein Auto, immer noch vorzüglich gelaunt. Ich fahre den Kutusowskij-Prospekt entlang, biege unter der Brücke ab und folge der Uferstraße,
passiere das Rathaus und schwenke hinter dem amerikanischen Konsulat auf den Sadowaja-Ring ein. Hier herrscht kaum Verkehr, es war ein weiser Entschluss, nicht die großen Boulevards zu benutzen. In Richtung Majakowskaja fahre ich durch die Nebenstraßen. Ich habe große Lust, ein wenig spazieren zu gehen, um meine aufgewühlten Nerven zu beruhigen und meine Gedanken zu ordnen. Wo doch heute so ein wunderbarer Tag ist.
Und schon habe ich den Wagen geparkt und schlendere die Spiridonewskij-Gasse entlang, vorbei am Marco Polo Presnja Hotel. Am Café Donna Clara biege ich nach links ab und komme auf die Malaja Bronnaja. Wenige Minuten später bin ich an den Patriarchenteichen.
Wie viele Moskauer verbindet mich eine ganz besondere Beziehung mit diesem Ort. Als junger Student saß ich mit meinen Freundinnen-Kommilitoninnen auf den Bänken am Wasser, quatschte über Musik, über die Liebe, über unsere grandiose (vielleicht ja gemeinsame!) Zukunft und über das globale Problem der nahenden Prüfungen, die für uns zu jenen Zeiten das einzige und das schrecklichste aller denkbaren Probleme waren.
Im Winter fuhren wir Schlittschuh, im Frühling knutschten wir in den schmalen Gassen in der Umgebung der Teiche herum, tranken Wein. Dieser Ort wird für mich auf ewig das Siegel eines unbeschwerten Daseins tragen. Hier herrscht immer Frühling, und alle Menschen sind für immer achtzehn Jahre alt, sogar der Greis dort mit der Zeitung, der mit seinen fünfundsiebzig noch ganz jung aussieht. Na ja, so, wie wir damals waren, werden wir nie mehr sein …
An den Patriarchenteichen spürt man das geheime Zentrum der Stadt. Obwohl der Rote Platz allgemein als der Mittelpunkt Moskaus gilt, habe ich das noch niemals so empfunden. Vielleicht liegt es daran, dass man auf dem Roten Platz, mit seinen vielen Hotels, Kaufhäusern, all den Touristen, Straßenverkäufern und sogenannten Hauptstadtgästen, am wenigsten vom eigentlichen Moskau erkennen kann; oder daran, dass er zu überfrachtet ist von der Präsenz des Staates.
Die Patriarchenteiche sind etwas ganz anderes. Vor allem, wenn man sich ihnen vom Gartenring aus nähert. Nach dem Lärm und Gedränge der überfüllten Hauptverkehrsadern, wo man den Puls der Megapolis am stärksten spürt, gerät man plötzlich in eine Enklave der Ruhe. Zu jeder Jahreszeit herrscht hier eine besondere Stimmung. Wenn man die vielen Menschen sieht, die seelenruhig um die Teiche spazieren gehen oder friedlich auf den Bänken sitzen, versteht man, dass hier die Zeit viel, viel langsamer vergeht. Im Winter scheint hier sogar der Schnee viel ruhiger zu fallen, geheimnisvoll glänzt er im Licht der Laternen und lässt den Tag sanft in den Abend, den Abend in die Nacht hinübergleiten. Das Viertel um die Patriarchenteiche scheint von unsichtbaren Wänden umgeben, die von der Spiridonowka-Straße, der Spiridonewskij-Gasse, der Malaja-Bronnaja-Straße und der Jermolajewskij-Gasse gebildet werden. Starke hohe Wände, die die Gemeinheit und Hässlichkeit der übrigen Stadt nicht hereinlassen. Dieses Viertel ist eine Festung, die der Schutzengel der Stadt Moskau ersonnen hat; damit die Moskauer sich hinter ihren Mauern verbergen können; damit sie sich nicht wie Hunde fühlen, die einem Knochen hinterherhecheln, sondern in den Zustand der Menschlichkeit
zurückzukehren. Das gilt gerade heute, da die Stadt sich so radikal wandelt, da sie ihre altväterliche Gediegenheit, ihre Originalität und ihre eigentümliche Sprache für immer verliert.
Ich könnte mir gut vorstellen, dass auch Herr Bulgakow einst hinter den Mauern dieser Festung Schutz suchte, wenn er auf seinen Wanderungen durch Moskau all den Bosojs und Lichodejews oder den Mitgliedern von Massolit begegnet war und sich bis oben hin mit deren Energie vollgesaugt hatte, die aus Neid, Bestechlichkeit,
Weitere Kostenlose Bücher