Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
Glaub einfach daran, dass alles gut wird.«
»Das möchte ich ja gern, Jula, wirklich. Ich bin es so leid, gegen diese ewige Langeweile anzukämpfen, diese sinnlose Herumhängerei. Ich muss daran glauben. Ich hoffe, dass irgendwann der Moment kommt …«
»Dieser Moment wird kommen, du dummer Junge, ganz bestimmt wird er kommen. Wenn du wieder achtzehn Jahre alt bist. Du darfst dich nicht mehr von all dem Negativen um dich herum aufsaugen lassen.«
Ein Fußball saust an uns vorbei, gekickt von einem übermütigen Nachwuchs-Ronaldo, kullert die Böschung hinunter, springt über eine Bodenwelle und platscht ins Wasser. Der unglückliche Schütze erscheint, kratzt sich verstört am Kopf und sagt: »Scheibenkleister«. Wir sehen einander an, ich grinsend, er verlegen. Einem plötzlichen Impuls folgend, beschließe ich, den verlorenen Ball wiederzuholen.
Ich klettere also die Böschung hinunter, der Junge hinter mir her. Der Ball schwimmt ziemlich weit vom Ufer entfernt auf der Wasseroberfläche, so dass man ihn mit der Hand nicht erreichen kann. Schon beginne ich, meine edelmütige
Anwandlung zu bereuen, da sehe ich einen abgebrochenen Ast im Gras liegen. Ich schnappe ihn mir und angle damit nach dem flüchtigen Ball, versuche, ihn mit der äußersten Spitze des Astes vorsichtig in Richtung Ufer zu treiben. Ganz langsam um sich selber kreisend bewegt sich der Ball auf uns zu und schickt dabei kleine konzentrische Wellen aus. Fast kann ich ihn mit der ausgestreckten Hand greifen, da wende ich für einen winzigen Moment den Blick zur Seite und schaue ins Wasser.
Ich sehe unser Spiegelbild, meins und das des Jungen hinter mir. Der Ball schickt die nächste Welle über die Wasseroberfläche, und in dem Moment, als sie unser Spiegelbild erreicht, entsteht ein interessanter visueller Effekt. Das Bild wird von der Kräuselung verzerrt, und plötzlich verwandelt sich der Mann im Businessanzug in den Jungen im Sportdress. Und so geschieht es mehrere Male, es sieht aus wie die Wackelbilder auf den Postkarten meiner Kindheit. Ich drehe mich um und sehe den Jungen an, der das Schauspiel ebenfalls bemerkt hat und übers ganze Gesicht grinst. Dann lasse ich meinen Blick weiterwandern zu Jula, die zu uns heruntergekommen ist und mit einem sehr warmen Blick auf das Wasser schaut, voller Zärtlichkeit und Wehmut. Ich fühle mich auf einmal ganz seltsam, und meine Kehle schnürt sich zusammen. Der Junge nimmt seinen Ball, sagt »Danke« und geht weg. Wir klettern die Böschung hinauf. Wir spazieren weiter durch die Allee. Keiner von uns beiden berührt das Thema der Wackelbilder, so als hätten wir Angst, irgendetwas zu zerstören. Nach einer Weile, ohne es selbst zu merken, nehme ich ihre Hand.
Wir bleiben unter den Bäumen stehen, sie lehnt sich an mich und sagt leise: »Ich fühle mich gerade so wohl. Mir geht es hier richtig gut mit dir …«
Ich würde ihr gern sagen, dass es mir überhaupt noch niemals so gut ging wie jetzt, und dass ich am liebsten stundenlang mit ihr um die Patriarchenteiche trödeln würde, dass ich mir wünsche, sie jeden Morgen anzurufen, oder besser noch, jeden Morgen mit ihr aufzuwachen. Aber mein Mund ist auf einmal ganz trocken, und ich sage stattdessen bloß: »Heute ist einfach ein wunderbarer Tag.«
Dann schlendern wir durch die Straßen des Viertels, und sie erzählt mir irgendwelche belanglosen Geschichten, von einer Freundin, die zwei Hunde hat, wie sie sich als kleines Mädchen einmal im Gorkipark verirrt hat, von alten sowjetischen Filmen und allen möglichen anderen Unsinn, und ich höre ihr zu und fühle mich dabei im Inneren ganz warm und ruhig. Ich sehe sie an, lächele, mache ab und zu eine Bemerkung und würde am liebsten den ganzen Tag mit ihr zusammen bleiben. Aber dann ruft Vadim an, und ich verstehe, dass es Zeit ist, aufzubrechen. Wir verabschieden uns, und ich schaue ihr nach, bis sie hinter einer Hausecke verschwindet, ich bemerke, dass sie wunderbare lange Beine hat, dass sie ein wenig größer ist als ich und dass ich mich jetzt schon wieder nach ihr sehne.
Die ganze Welt scheint auf einmal eine wohlige Wärme auszustrahlen, der Asphalt, die Wände und Dächer der Häuser, die Fußgänger und die Hunde, die an mir vorbeilaufen. Und alle Menschen lächeln einander an. Als ich schon fast bei meinem Auto bin, öffnet sich plötzlich der Himmel über
Moskau, und ein warmer Regen strömt herab. Ich lege den Kopf in den Nacken, schaue in den Himmel und fange mit dem Mund die
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