Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
Unterlagen immer in so winziger Schrift ausdruckt, dass man sie nicht lesen kann.
Die Sekretärin kommt zurück und stellt mit verwirrtem Gesicht ein Glas Wasser vor Neker ab. Neker läuft tiefrot an, er sieht aus, als wollte er das Wasser dem armen Dummchen über den Kopf gießen. Das Gezeter der Konferenzteilnehmer steigert sich zu einem wilden Tumult, in den nächsten Sekunden müsste sich eigentlich die Erde auftun und das bedauernswerte Wesen ins konzerneigene Fegefeuer reißen.
Im letzten Moment gelingt es ihr aber doch noch, eine Tasse Tee vor Neker zu platzieren. Er macht ein Gesicht wie ein gutmütiger Familienvater und murmelt irgendwas wie »Wir haben einen schweren Tag hinter uns, alle sind erschöpft, da wollen wir mal nicht so streng zu unseren Kollegen sein«. Der Direktor unserer Filiale nickt gutmütig, woraus ich schließe, dass er die Sekretärin noch heute zum Teufel jagen wird.
Neker setzt inzwischen seinen Vortrag fort. Mithilfe eines Diagramms erläutert er monoton die Geschäftsentwicklung des vergangenen Jahres und die Prognosen für das bevorstehende.
Dann wiederholt er das Ganze für sämtliche Länder, in dem die Firma Niederlassungen hat. Langsam, aber sicher döse ich ein.
Bei dem Satz »Unsere Filialen in Südostasien haben ausgezeichnete Resultate erzielt …« hebe ich die Hand, um anzumelden, dass ich mal aufs Klo muss. Hier rumzusitzen und sich vorzustellen, wie die Arbeitssklaven der führenden Produktmarken der Welt die Verkaufsstatistik unseres Konzerns nach oben treiben, indem sie genmodifizierten Konservenmais hinunterschlingen, geht über meine Kräfte. Als auf mein Zeichen niemand reagiert, schleiche ich mich einfach aus dem Raum. Auf dem Weg zu meinem Büro begegnet mir jene Sekretärin, die das Tee-Desaster veranstaltet hat.
»Oh! Ist schon Schluss?«, fragt sie und klimpert mit den Augenwimpern wie eine Plastikpuppe. »Gibt es irgendwelche Veränderungen?«
»Hmhm. Dringende Sparmaßnahmen bei den Lohnkosten. Das gesamte Sekretariat wird durch Roboter ersetzt«, knalle ich ihr hin.
»Oj … O Gott! Und was wird aus uns?«
»Lass dir einfach einen Mikrochip in den Kopf einnähen. Ich hab ein paar Bekannte, die machen es dir billiger.«
Schon an der Tür zu meinem Büro drehe ich mich noch mal um. Diese dumme Gans steht immer noch da wie angewurzelt. Wahrscheinlich überlegt sie, wo man so einen Chip wohl am kleidsamsten anbringt, am Hinterkopf oder an der Stirn. Ich zünde mir eine Zigarette an, checke meine Post und surfe ein bisschen im Internet. So vergehen zehn Minuten. Keine Anrufe auf der internen Leitung. Hat denn immer
noch niemand bemerkt, dass ich abgehauen bin? Was sind das bloß für Zombies?
Schließlich schnappe ich mir meinen Autoschlüssel und mache mich auf den Weg zum Fahrstuhl. Im Auto kommt mir der Gedanke, dass mein Witz von der Ersetzung der Sekretärinnen durch Roboter eigentlich überhaupt nicht lustig ist.
Ich arbeite schon lange unter Robotern.
Zu Hause angekommen, nehme ich erst mal eine Dusche. Dann höre ich meinen AB ab, lege mich mit einer Tasse Tee aufs Sofa und denke, dass ich doch mal wieder ausschlafen müsste. Andererseits ist es zu Hause extrem langweilig. Ich nehme mein Handy und rufe systematisch alle meine Bekannten an, um herauszufinden, was heute Abend noch los ist. Das Ergebnis dieser interaktiven Umfrage ist, dass die eine Hälfte meiner Bekannten zu einer Performance anlässlich der Eröffnung eines neuen Club-Restaurants mit dem Namen Basement geht, während die andere Hälfte die Eröffnungsparty einer neuen Boutique auf dem Kutusowskij-Prospekt beehrt. Da ich zu beiden Veranstaltungen eingeladen bin, überlege ich lange, welche die interessantere ist. Schließlich entscheide ich mich für die Restaurantperformance. Da wird es wenigstens was zu futtern geben.
Während ich mich in Schale werfe, beantworte ich die SMS einer Bekannten von mir; trinke im Stehen Kaffee; zappe mich gedankenlos durch die Fernsehprogramme. Im Hintergrund dudelt »Ready to Go!«. Republica.
Der Abend könnte gut werden.
Die Szene
Ich finde mich also in dem bewussten Etablissement ein. Obwohl es noch nicht einmal neun Uhr ist, also eigentlich noch zu früh für den großen Ansturm, ist schon reichlich Publikum aufgelaufen. Ich schiebe mich in das Gedränge, drücke hier einem Typen die Hand, küsse da eine Frau auf die Wange und steuere dabei auf den Tresen zu. Ich bestelle mir zwei Whiskey, leere den ersten auf ex und mache
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