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Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Titel: Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Minajew
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Teil
    Insomnia

Der Zug
    Und jetzt bin ich am Bahnhof. Tja, so ist es, ich fahre ganz bescheiden mit der Eisenbahn und fliege nicht etwa in der Business Class. Obwohl es sich für uns Samurai der Geschäftswelt eigentlich so gehörte. Aber Flugzeuge versetzen mich immer in Panik, zumindest, wenn es Maschinen einer Inlandsfluglinie sind.
    Kurz und gut, ich fahre mit dem Zug nach Petersburg, in einem Zweibettabteil des sogenannten Nikolajewski-Express. »Modernste Technik paart sich mit Luxuskomfort«, wie die Werbebroschüre verkündet. Der Zug ist das Allerletzte. Die Typen vom Verkehrsministerium halten sich wahrscheinlich für die schlauesten Brüder im Lande, weil sie glauben, wenn man ein paar lahmärschige Schaffner und Schaffnerinnen in schnieke Uniformmäntel mit Kupferknöpfen steckt und ihnen pelzbesetzte Dienstmützen überstülpt, dazu die alten sowjetischen Züge ein wenig mit Farbe anpinselt und an den Abteiltüren ein protziges »N« anbringt, dann wird daraus im Handumdrehen ein supergeiler Luxus-Express, fast schon Eurostandard. Ich halte es da lieber mit der alten Volksweisheit: Auch wenn man ununterbrochen »Honig, Honig, Honig« vor sich hin murmelt, wird es im Mund noch lange nicht süßer, und Scheiße bleibt Scheiße. Während ich einsteige, versuche ich mir vorzustellen,
wie viel Kohle diese Schlitzohren im Ministerium bei der vermeintlichen Modernisierung der Züge in die eigene Tasche umgeleitet haben.
    Als ich in mein Abteil komme, ist da blöderweise schon so ein alter Knacker. Fuck! Ich habe gehofft, allein zu fahren. Obwohl der Zug noch im Bahnhof steht, hat der Opa schon seine Liege für die Nacht fertig gemacht, die Laken schön akkurat ausgebreitet, das Kissen zurechtgeklopft. Und jetzt liegt er da mit einem Buch vor der Nase. Als ich eintrete, zieht er schnell die Decke bis zum Kinn hoch, aber sein frisch gebügeltes weißes Doppelrippunterhemd habe ich leider doch noch gesehen.
    So einen alten Knaben trifft man sehr selten als Geschäftsreisenden. In der Regel wird er in irgendein verschnarchtes Kuhschisshausen geschickt, um da irgendwelchen trostlosen Quatsch zu veranstalten, zum Beispiel Supermarktkassiererinnen im Umgang mit modernen Kassensystemen unterrichten oder so was. Für ihn selber hat so eine Sache ungefähr den Stellenwert einer Thronbesteigung, er bereitet sich penibelst darauf vor, packt drei Tage lang seine Koffer, und legt als Krönung seinen liebsten historischen Roman obendrauf. Kurz vor der Abreise fährt ihm dann aber doch die Angst in die Glieder, er könnte einem potenziellen Reisegefährten zu schlau vorkommen – wer weiß, auf einmal gibt einem so ein Suffkopp eins über die Rübe! Also fischt er den Schmöker wieder raus und tauscht ihn gegen einen beschissenen Krimi von Marinina oder Daschkowa aus. Zehnmal am Tag fragt ihn seine Frau, ob er auch seine Pantoffeln eingepackt hat, die ganze Zeit hat er entsetzliches Reisefieber, sein Blutdruck steigt und steigt, und so weiter. Natürlich
macht er sich mindestens zwei Stunden zu früh auf den Weg zum Bahnhof, wer weiß, was unterwegs alles passieren kann! Er umarmt Frau und Kinder, küsst alle nach alter russischer Art drei Mal, empfängt zum Abschied von seiner Gattin den Segen sowie die strenge Anweisung »Mach mir keine Dummheiten da oben« (wofür ihm sowieso jegliche Voraussetzungen fehlen) und geht aus dem Haus.
    Dieser Typ hier hat das große Los gezogen. Er fährt nicht nach Kuhschisshausen, sondern nach Petersburg, noch dazu in einem Zweibettabteil. Wahrscheinlich geht es zu einer Schulung für Hauptkassierer. Ich wette meinen Arsch, dass dieser alte Knabe auf dem Weg zum Bahnhof davon geträumt hat, das Schicksal würde ihm vielleicht noch eine kleine Extraprämie bescheren, in Gestalt einer niedlichen, blutjungen Mitreisenden. Die würde er dann die ganze Fahrt über vollsabbeln und mit penetranten Fragen löchern. Und wenn es Zeit zum Schlafengehen ist, murmelt er irgendwas wie »Ich drehe mich um, Fräulein, Sie brauchen keine Angst haben«, damit er nicht aus dem Abteil gehen muss, wenn sie sich umzieht. Und dann delektiert er sich heimlich und verstohlen an frischem Mädchenfleisch, die Sau.
    Aber dieses Mal hat ihm das Schicksal den Mittelfinger gezeigt. Sein Reisegefährte ist keine junge Tussi mit dicken Brüsten, sondern ein schon ziemlich angeheiterter Typ – nämlich ich.
    Apropos, die Anheiterung fand in dem italienischen Lokal Trattoria statt, in Gesellschaft meiner bereits erwähnten

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