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Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Titel: Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Minajew
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kleine Fläschchen Moskowskij-Weinbrand, das mir als Reisendem eines Zweibettabteils offeriert wurde, aufgeschraubt und mir den größten Teil des ekelhaft nach Fusel stinkenden Zeugs in den Hals gegossen. Mein Reisegenosse hört einfach nicht auf, mich mit seinen idiotischen Fragen zu löchern. Was der Anlass meiner Reise sei, wann ich wieder zurückführe und so weiter. Jetzt sehe ich ihn mir ein wenig gründlicher an und komme zu dem Ergebnis, dass er wahrscheinlich einer von den blöden Ärschen ist, die vor kaum fünfzehn Jahren noch jeden Tag allen Klatsch und alle Gerüchte, die ihnen zu Ohren kamen, säuberlich aufgeschrieben und dann
anonyme Briefe zusammengeschmiert hatten, Denunziationen ihrer Arbeitskollegen und Nachbarn. Wer alles die »Stimme Amerikas« hört, wer einen Videorecorder besitzt und wer Oralsex mit heimlichen Geliebten treibt. Unvermeidlich kommt das Gespräch auf die Zeit seiner verflossenen Jugend. Es beginnt eine ellenlange Geschichte über Studentenausflüge nach Olgina in der Nähe von Petersburg, mit Lagerfeuerchen, Liederchen zum Gitarrchen, Wodkachen, Komsomolzinnenchen, und dann – na, Sie wissen schon … Ich versuche, diesen quatschenden Pfadfinderveteranen zu hynotisieren, indem ich im Stillen eine Art Mantra vor mich hinmurmele: »Haltendlichdieklappehaltendlichdieklappehaltendlichdieklappe …«
    Plötzlich setzt sich der Olgina-Reisende und Liebhaber singender Komsomolzinnen auf, schiebt die Decke zur Seite und kramt seinen Proviant heraus. Er schmiert sich eine Stulle, krümelt roten Kaviar drauf und trällert dabei immerzu: »Ah! Kaviar! Lecker, oooh, ist der gut!« Der Kaviar, versteht sich, ist trocken wie Mäusekökel und von unterster Qualität. Dann sieht er mich auf einmal verschmitzt an und raunt:
    »Wissen Sie, Ihr Trainingsanzug erinnert mich an etwas. Wir hatten nämlich damals genau die gleichen, bloß in blau. Bei unserem Studentenbautrupp ›Arbeitsenthusiasmus‹.«
    Hallo?? Wie soll ich denn das jetzt finden? Ich mag vielleicht im Augenblick gerade ziemlich besoffen sein, aber modemäßig bin ich voll auf der Höhe, und das ist kein Sowjetfummel, sondern ein knallroter Adidas-Sportanzug aus der Vintage-Serie, wie bei den Beastie Boys in den Achtzigern, und die Schuhe sind echte Fila for Ferrari! Dabei gibt
mir die Reminiszenz meiner topmodischen Kluft an das Outfit der organisierten Kriminalität Anfang der Neunzigerjahre sogar noch einen gewissen Prickel. Anders gesagt, ich fühle mich wie eine Kreuzung aus einem kleinen Mafiabüttel, der von den Budenverkäufern Abgaben eintreibt, und einem Szenetypen auf Ibiza. Und da redet mir diese Nervensäge von Studentenbautrupps! Siebzig Jahre früher hätte ich ihn kurzerhand umgelegt. Vor Gericht hätte ich dann behauptet, er sei ein Feind des Volkes gewesen, unterwegs nach Petersburg, um den Genossen Kirow zu ermorden und habe mich beim Schlafen gestört. Ich atme heftig aus, brumme, ich müsse mal zur Toilette, schnappe mir meine Zigaretten und verpisse mich nach draußen.
    Auf der Plattform zwischen den Zugwagen zieht es und stinkt abscheulich nach kaltem Zigarettenrauch, Spucke und Urin. Der Intensität der Gerüche nach zu urteilen, ist hier längere Zeit nicht saubergemacht worden, vermutlich seit den Zeiten des Zaren Nikolaj. Ich zünde mir eine Zigarette an und schaue aus dem Fenster: Ein paar vereinzelte Bäume fliegen vorbei, da und dort Gebäude, kahle Felder. Eine Zeile von Alexander Blok fällt mir ein: »Oh Russland, du mein Weib!« Wenn ich allerdings diese Trübnis da draußen sehe, diese heruntergekommenen Bahnhöfe, dazu all diese grässlichen Gerüche, dann fände ich es vielleicht richtiger zu sagen: »Wem die Stute Braut …« Inzwischen hat sich mein Rausch halbwegs verflüchtigt, dafür werde ich müde.
    Zwei weitere Personen erscheinen auf der Plattform. Es sind zwei Männer um die vierzig, der Erste trägt Jeans und Pullover, der Zweite einen Anzug und weiße Turnschuhe. Die beiden sehen wie gealterte Breakdance-Fans aus, die in
den Achtzigern stecken geblieben sind. Sie haben bei mir sofort ihren Titel weg: die Breaker. Sie stehen da, rauchen und unterhalten sich mit schwerer Zunge. Ich qualme ebenfalls eine Zigarette nach der anderen, in meinem Kopf herrscht dichter Nebel, und ich finde es extrem ungeil, zurück in mein Abteil zu dem schlaflosen alten Knacker zu gehen. Um etwas Abwechslung in den verkorksten Abend zu bringen, lausche ich dem Gespräch der beiden Breaker. Aus den

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