Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Titel: Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Minajew
Vom Netzwerk:
Wortfetzen, die ich aufschnappe (»Markt«, »zu teuer«, »völlig abgedreht«, »das kann man nicht bringen«), schließe ich messerscharf, dass das Gespräch, wie in Russland üblich, wenn man den ersten Liter Wodka intus hat, auf das Thema Wirtschaft gekommen ist. Danach folgt in der Regel die Außenpolitik und die nationale – oder wahlweise die jüdische Frage. Spätestens dann sollte man sich in Sicherheit bringen.
    Jetzt bekomme ich folgenden Dialog zu hören: »Weißt du, was ich interessant finde? Meine Verwandten in Nishni Nowgorod haben mir erzählt, dass bei ihnen das einheimische Bier dreizehn Rubel kostet. In Moskau zahlst du dafür schon fünfundzwanzig.«
    »Na ja«, antwortet der andere. »Ist doch logisch. Da kommt der Transport drauf, noch dies und das, klar ist es da in Moskau teurer.«
    »Ah!«, ruft da der Erste triumphierend. »Und warum kostet dann die Klinskaja-Wurst in Moskau fast genauso viel wie in Nowgorod? Die muss nicht transportiert werden, oder was?«
    Das Gesicht seines Gesprächspartners, vom Licht der vorbeiflitzenden Laternen immer wieder aus der Dunkelheit
gerissen, legt sich in tiefe Falten, wegen der hektischen Gehirnarbeit bei der Suche nach einer Lösung für dieses schwerwiegende ökonomische Problem.
    »Tja«, sagt er laut. »Das ist allerdings eigenartig.«
    »Eben. Ich verstehe es nämlich auch nicht. Das müssen ziemliche Blödmänner sein da in Nishni Nowgorod. Entweder können sie nicht rechnen oder sie sind überhaupt bescheuert. Die in Moskau kaufen die Wurst doch sowieso, egal, was sie kostet! Ist doch klar wie Katzenpisse, oder?«
    »Tjaa«, antwortet der Zweite und verliert jetzt endgültig die Gewalt über seine Zunge. »Wahrscheinlich.«
     
    Vox populi, sage ich nur. Eine schreckliche, eine furchteinflößende Macht. Wie die Hunnen mit ihren Reiterhorden trampeln sie all die zierlichen Schlösser sozialer, ökonomischer und philosophischer Denkmodelle nieder, die Tag für Tag von hoch qualifizierten (und gut bezahlten) Männern und Frauen errichtet werden.
    In solchen Momenten spürt man ganz besonders, wie weit man sich vom gemeinen Volk entfernt hat.
    Meine Laune ist im Eimer. Ich verziehe mich.
    In meinem Abteil herrscht Stille. Der alte Knacker träumt anscheinend süß. Ich hoffe, er wacht vor Sonnenaufgang nicht wieder auf. Die Uhr zeigt zwei. Ich lege mich hin und versuche einzuschlafen. Für gewöhnlich kann ich im Zug nach Petersburg nicht gut schlafen; in umgekehrter Richtung dagegen wunderbar. Wahrscheinlich hält mich die unbewusste Angst vor dieser fremden Stadt wach. Oder liegt es vielleicht daran, dass mein Rausch sich langsam in einen Kater verwandelt? Egal, was immer der Grund ist, ich schlafe
jedenfalls scheußlich. Wälze mich. Drehe die ganze Zeit mein Kissen hin und her. Nehme die Wolldecke. Werfe sie weg. Nehme sie wieder. Kämpfe gegen Kälte, dann gegen Hitze. Döse irgendwann ein, bin aber nach kurzer Zeit schon wieder wach und starre mit offenen Augen in die Dunkelheit. In diesem Zustand verbringe ich mehrere Stunden, bis ich so gegen sechs Uhr morgens meine bleischweren Lider endgültig aufreiße.
    Mein liebster Nachbar, der frühe Vogel, sitzt schon da und macht sich einen Tee. Jetzt geht mir ein Licht auf: Man hat mir diesen Opa zielgerichtet und mit voller Absicht auf den Hals geschickt, damit er mir meine schöne Reise mit seinem blöden Gequatsche und seinen Komsomolzenjugendschwänken vermiest. Ich setze mich auf, öffne eine Packung Saft und sauge durstig den Inhalt in mich hinein. Und schon setzt der Typ seine Verbaldrehleier wieder in Betrieb. Er quasselt sich warm, der Mistkerl, schießt sich ein: »Gut geschlafen?«, »Wir sind bald da«, »Trinken wir erst mal ein Teechen«. Ich grunze bloß mürrisch und tue so, als suchte ich etwas in meiner Reisetasche. Dann nehme ich mein Jackett, um nach draußen auf die Plattform zu verschwinden. Mechanisch durchsuche ich meine Taschen, ob ich alles dabeihabe, da ertasten meine Finger einen kleinen weichen Gegenstand. Ich hole ihn ganz langsam heraus und sehe ihn verstohlen an. Eine weiße Substanz in Zellophan.
    »Was ist denn das für ein Tütchen?«, fragt Opa Schlaumeier sofort.
    Vielleicht Salz? Aber wozu, ich habe nichts zu salzen. Reiseproviant? Seit wann nehme ich Lebensmittel mit, wenn ich Zug fahre? Bin ich jetzt auch schon zum Rucksacktouristen
geworden? Wozu die alberne Raterei? Ist doch logisch, was das ist. Pulver. Hirnbleiche. Persil für die Hirnwindungen.

Weitere Kostenlose Bücher