Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
geht es mir mit Petersburg. Da ich aus geschäftlichen Gründen ziemlich oft in dieser Stadt bin, war ich gezwungen, mich an ihren grauen Himmel zu gewöhnen, an ihr unbeständiges Wetter, das feucht-muffige Klima und das gelbe Wasser aus dem Hahn. Was für Kinder aus meiner Romanze ohne Liebe entstehen, kann ich mir aber höchstens in meinen Alpträumen vorstellen.
Als ich zum ersten Mal hierherkam, war ich sofort davon überzeugt, dass es nur eine Methode gibt, die depressive Atmosphäre dieser Stadt zu ertragen: Man steht morgens auf und pafft erst mal ein Pfeifchen Crack. Wenn man dann
wieder runterkommt, lässt man sich mit Wodka volllaufen und verbringt den Rest des Tages mit Weinen. Man hält sein Gesicht aus dem Fenster und mischt seine Tränen mit dem Regen, der ununterbrochen von dem schmutziggrauen Petersburger Himmel rieselt. Und vögelt. Fickt wie ein zum Tode Verurteilter, der weiß, dass jede Nummer die letzte sein kann.
Drei Jahre dauerte es, bis ich begann, mich allmählich an die Stadt zu gewöhnen. Ich war pro Jahr etwa vier oder fünf Mal da, habe mir eine gewisse Anzahl an Bekannten zugelegt, einige belanglose Affären sowie reichlich Saufereien und Raufereien in Clubs und auf diversen Privatfeten überstanden. Kurz, ich habe mein Bestes getan, mich zu arrangieren, damit mich nicht jedes Mal diese quälende Langeweile und Depression befällt, die ich so verdammt schwer wieder loswerde, selbst wenn ich zurück in Moskau bin.
Bekannte von mir, die aus Petersburg stammen, hatten mich damals schon vorgewarnt. Um mit der Stadt klarzukommen, sagten sie, muss man lernen, ihre Einwohner zu verstehen. Sie sind eine besondere Spezies. Die Petersburger sind nicht so dünkelhafte Spießer wie die Moskauer, sie sind um einiges kultivierter und weniger auf banale fleischliche Vergnügungen fixiert. Nicht umsonst gilt Petersburg als die kulturelle Hauptstadt des Landes, als eine Art Brückenkopf der Geistreichen.
Heute verstehe ich die Stadt und ihre Launen tatsächlich um vieles besser. Ich kann nicht gerade sagen, dass der Weg dahin leicht und angenehm gewesen wäre, aber irgendwann bin ich dahintergekommen.
Das Grundproblem der hochgeistigen Einwohner Petersburgs ist das Festklammern an der eigenen Bedeutsamkeit und Besonderheit. Alle Gespräche mit Moskauern laufen letztendlich auf zwei Themen hinaus: Entweder auf das Dilemma Das europäische Petersburg versus Das große Dorf Moskau oder auf den Satz Pump mir mal einen Hunni bis morgen . Über der ganzen Stadt lastet der Fluch der ehemaligen Hauptstadt. Sogar Menschen, die von weither nach Petersburg ziehen, werden schnell von diesem Virus befallen und quatschen mit im allgemeinen Chor. »Bei euch in Moskau ist mir zu viel Gedränge auf den Straßen«, »Das ganze Geld geht nach Moskau« und so weiter. Nach kürzester Zeit kennen sie die Petersburger Stadtgeschichte aus dem Effeff und können sämtliche historischen Denkmäler und bedeutenden Orte auswendig aufsagen. An sich ist das ja eine wunderbare Sache, aber manchmal geraten sie in ihrem Bemühen, echte Petersburger zu sein, in ziemlich komische Situationen.
Einmal spazierte ich mit einem Bekannten durch diese seine Stadt, und er bewies mir hingebungsvoll, wie toll es doch sei, hier zu leben. »Da bei euch in Moskau, das ist doch der pure Horror«, sagte er immer wieder und versicherte mir ein ums andere Mal, wie wohl er sich fühle und dass er mich wahrlich nicht beneide. Zwischendurch erklärte er mir einige historische Gedenkstätten, an denen wir vorbeikamen und erläuterte mir, welche Straßenseiten durch den Artilleriebeschuss während des Zweiten Weltkrieges besonders gefährdet gewesen seien. Dann hielt er mir einen Vortrag über die Schrecken der Blockade Leningrads. Ich hörte ihm die ganze Zeit aufmerksam zu und fragte am Ende höflich,
ob denn auch seine Familie während der Blockade Opfer zu beklagen hatte. Da machte er bloß eine wegwerfende Handbewegung und sagte: »Ach was, ich stamme doch aus einem kleinen Dorf bei Murmansk, ich bin erst vor drei Jahren nach Petersburg gekommen.« Und erzählte ungerührt weiter.
Die Wurzeln dieser Petersburger Bedeutsamkeit liegen zweifellos in ihrer Mediokrität. Jedem Ereignis, das ein wenig aus dem allgemeinen Trott der Stadt herausragt, wird ein kolossales Gewicht beigemessen. Das kann die Präsentation der neuen Frühjahrskollektion einer popeligen Boutique sein (alle Jahre wieder), oder die Ibizareise eines Petersburger DJs. Dann titeln
Weitere Kostenlose Bücher