Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
Koks.
Ich hebe den Zeigefinger und sage zu dem Komsomolveteranen:
»Moment, ich bin gleich wieder da.«
Dann schnappe ich mir eine Reklamebroschüre des Zugrestaurants und eine Zeitschrift und zische ab aufs Klo. Zu dieser frühen Stunde herrscht dort glücklicherweise noch kein Betrieb. Ich verrammele die Tür, falte die Zeitschrift auseinander, breite sie sorgfältig über das Waschbecken und leere den Inhalt des Plastiktütchens darauf aus. Ganz behutsam teile ich den Stoff in zwei Lines und ziehe ihn dann schnell in die Nase.
»Gute Reise!«, wünscht mir die Werbung des Verkehrsministeriums auf Seite vierundzwanzig.
»Danke«, antworte ich laut.
Ich verlasse die Toilette und trete wieder auf die Plattform. Fünf Minuten lang starre ich einfach nur dumpf aus dem Fenster. Dann werde ich endlich richtig wach. Meine Gelenke werden beweglich, sogar meine Laune steigt spürbar. Ich gehe zurück ins Abteil.
Die letzte Stunde vor der Ankunft in Petersburg verbringe ich in bester Stimmung. Ich lache herzlich über die Witzchen des alten Knackers, lasse mir noch einmal ein paar Anekdötchen aus seiner Studentenzeit erzählen, behaupte sogar kühn, ich sei ein leidenschaftlicher Gitarrenspieler. Kurz, ich amüsiere mich köstlich.
Dann fährt der Zug in Petersburg ein. Ich schnappe meine Tasche, verabschiede mich lange und herzlich von meinem
Reisegefährten, wünsche ihm Erfolg für seine Schulung, sage so was wie »Vielleicht fahren wir ja zusammen zurück, das wäre doch schön!« und klettere fröhlich winkend und lachend aus dem Zug. Ich gehe den Bahnsteig entlang, durchquere die Bahnhofshalle und trete auf den Bahnhofsvorplatz. Dort rufe ich Ljoscha an, den Mitarbeiter unserer Petersburger Filiale, der mich abholen soll. Er sagt, er sei in wenigen Minuten da. Ich zünde mir eine Zigarette an, obwohl ich eigentlich gar keine Lust habe, zu rauchen, nehme zwei Züge und schleudere sie mit einer großen Geste in die Petersburger Luft. Petersburg wirft mir postwendend eine Handvoll Regen ins Gesicht.
Ljoscha ist ein Typ so um die fünfundzwanzig, der immer, wenn ich ihn sehe, eine Sonnenbrille trägt, Tag und Nacht. Nun ist es ja so, dass das nächtliche Tragen von Sonnenbrillen das Markenzeichen von Dealern, Zuhältern, Diskogrünschnäbeln und Volljunkies ist. Daraus wiederum folgt zwingend, dass jemand, der nach Sonnenuntergang eine Sonnenbrille trägt, entweder wie eines der oben genannten Subjekte wirken will oder ein Vollidiot ist. Auch jetzt am frühen Morgen bei Regenwetter hat es wenig Sinn, sich eine schwarze Brille vor die Augen zu kleben. Aber Ljoscha begreift das irgendwie nicht. Würde er es begreifen, führe er nicht einen miesen Lada, und außerdem würde er in Moskau leben. »Wahrscheinlich ist er doch ein Junkie«, denke ich und grinse wieder.
Wir steigen ins Auto. Aus dem Radio kreischt aggressive Musik, extrem hektisch, extrem laut.
»Stört dich die Musik?«, brüllt Ljoscha mich an. »Ich höre einfach schnelle Musik gerne laut. Das macht munter.«
»Ist in Ordnung«, antworte ich. Tatsächlich kommt mir diese Musik gerade recht.
Ich lehne mich zurück und bitte ihn, mich ins Hotel zu fahren.
»Hast du schon was gespachtelt?«, fragt Ljoscha.
»Hmhm«, nicke ich und füge im Stillen hinzu: »Hauptsächlich durch die Nase.«
Wir fahren den Newski-Prospekt entlang. An einer Plakatwand lese ich eine Werbung für das Gastkonzert eines bekannten Opernsängers: »Der berühmte Interpret der Arie des Lenski aus Eugen Onegin« – und ich spreche leise die Stelle »Wohin, wohin, wohin seid ihr entschwunden?« vor mich hin.
Genau so ist es, denke ich. Fragen über Fragen. Weiß ich, was mir der kommende Tag bringt?
Oh ja, the line of coke ist ein Weg ins Unbekannte.
Ich schließe die Augen. Ich bin in Petersburg.
Petersburg
Mein Verhältnis zu Petersburg hat Ähnlichkeit mit einer dynastischen Ehe. Die jungen Prinzen und Thronfolger, die aus Gründen der Staatsräson hässliche Weiber heiraten mussten, gewöhnten sich wahrscheinlich daran, wider ihre Neigungen zu lieben. Ob es Spaß machte oder nicht, das Leben musste schließlich weitergehen. Man musste leben, vögeln und für neue Thronfolger sorgen. Deswegen zwang man sich zu lieben, indem man irgendwelche interessanten Merkmale im Charakter, im Benehmen oder im Aussehen des Eheweibes entdeckte. Es ist verständlich, dass die Kinder, die unter solchen Umständen geboren wurden, oft Problemfälle waren. Kinder, ohne Liebe gezeugt.
So
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