Seelenkuss / Roman
unheimlich klugen Augen, die Kinder bekamen, wenn sie zu schnell erwachsen werden mussten. »Ich lerne dich kennen, Mom. Egal, was du mir erzählst, du hast mich ins Internat gesteckt, als es dir passte, und mich wieder rausgeholt, als es dir passte. Was mir gerade passt, daran hast du nie gedacht.«
Ashe merkte, wie ihr die Kinnlade herunterfiel. Auf tausenderlei schmerzliche Weise war Edens Vorwurf berechtigt und unberechtigt.
Wie konnte ich das alles so vergurken?
»Es gibt zu vieles, das du nicht verstehen kannst.«
Eden öffnete ihre Tür und schnappte sich den Rucksack. Sie hielt lediglich inne, um Ashe in die Augen zu sehen und zu sagen: »Ich hasse dich.«
»Eden!«
Dies musste einer dieser besonders frühzeitigen, besonders heftigen Pubertätsmomente sein, die sich bereits zart abzuzeichnen begannen. Ihre Tochter rutschte betont unelegant aus dem Wagen, was allein schon einer blanken Aburteilung gleichkam. Ashe kniff die Augen zu, suchte nach jener inneren Gelassenheit, die ihr ehedem geholfen hatte, es mit Werwölfen aufzunehmen, nur fand sie die nicht.
Göttin, ich habe keinen Schimmer, wie ich eine Mutter sein soll!
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6
A she dachte weder an ihren kurzen Rock noch an die hohen Absätze, als sie eiligst aus dem Wagen stieg. Folglich brauchte sie einen Moment, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, und bis dahin war Eden bereits die Vorderstufen hinaufgegangen. Ashe folgte ihr in dem verlangsamten Tempo, das die Schuhe geboten.
Und prompt knallte Eden ihr die Tür vor der Nase zu. Das laute, erboste
Rumms
bewirkte, dass Ashes Schuldgefühle in Wut umschlugen. Sie spürte deutlich, wie ihre Wangen zu glühen begannen.
Ganz ruhig bleiben, tief durchatmen! Mach’s nicht noch schlimmer!
Sie stieg die Verandastufen hinauf und in die Diele. Das Erdgeschoss war in zwei Wohnungen unterteilt. Links wohnte eine Engländerin, Mrs. Langford, deren Ansicht nach die Existenz von Übernatürlichem »selbstverständlich Unsinn und Gedöns« darstellte, egal, was das Fernsehen oder die Zeitungen sagten. Die winzige Wohnung rechts bewohnte ein Immobilienmakler, der nie zu Hause war. Ashe und Eden bewohnten den ganzen ersten Stock.
Ashe stieg die Treppe hinauf und wünschte, sie wäre wieder mit Reynard zusammen auf der Jagd nach dem Vampir. Das war so einfach gewesen! Mit Reynard arbeitete es sich herrlich einfach zusammen. Bei ihm wusste sie, was sie zu tun hatte.
Ihre Wut pendelte zurück zu Schuld und Trauer, die sich mit dem Wunsch mischten, sich gegenüber jemandem zu rechtfertigen, der viel zu jung war, um sie zu verstehen. Ach was! Ashe begriff doch selbst nicht, wieso sie getan hatte, was sie tat, nachdem Roberto gestorben war. Ihr erster Wunsch hatte darin bestanden, mit ihm gestorben zu sein. Aber da war Eden. Kinder verliehen einem eine ungekannte Lebensmotivation.
Ashes Hals wurde gegenwärtig von so vielen Gefühlen blockiert, dass sie nicht sprechen konnte. Im Haus hockte Eden auf dem Boden, den Rücken an die Wohnungstür gelehnt und misstrauisch vor sich hinstarrend.
Ashe zähmte ihre Wut. Wenn sie jetzt explodierte, entstünde allzu leicht aus einem Zank ein offener Krieg. Und Letzterer könnte damit enden, dass Eden wieder weglief. Also streckte Ashe wortlos einen Arm über ihre Tochter und schloss die Tür auf.
Eden stand auf, schnappte ihren Rucksack und rannte in ihr Zimmer.
Für einen Moment allein zu sein, tat Ashe gut. Sie streifte ihre Schuhe ab und zog die Kostümjacke aus. Alles war still. In dem Lichtstrahl, der durch das Fenster hereinfiel, tanzten Staubfasern.
Das Wohnzimmer war warm, ging es doch nach Westen hinaus. Viele Möbel besaßen sie nicht, aber mit den Fichtendielen, den eingebauten Bücherregalen und hell, wie sie war, wirkte die Wohnung gemütlich. Ashe hatte Glück gehabt, sie zu finden. Es gab sogar einen Park am Ende der Straße, wo Eden mit anderen Kindern spielen konnte.
Ich bemühe mich. Ehrlich!
Was auch bedeutete, dass sie den heutigen Streit schlichten musste. Sie klopfte an Edens Tür. »Hey, du.«
»Geh weg!«
Unweigerlich fühlte Ashe sich an ihre kleine Schwester Holly erinnert. Gab es so etwas wie ein Zicken-Gen? Hatte es sich bei Ashe in diesem Alter ebenfalls bemerkbar gemacht? Sie drehte den Türknauf und trat ein. Edens Zimmer präsentierte sich als Wirrwarr aus Stofftieren und Postern von schmollenden Popbands, deren Stars kaum alt genug waren, um sich zu rasieren. Bücher verteilten sich auf allen Oberflächen, aber auf dem Boden lag Edens
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