Seelenkuss / Roman
ausdehnende Leere, als Simeon ihn verließ: jene entsetzliche Ödnis, wo einst eine sterbliche Seele gewesen war. Vorsichtig berührte er das altersgezeichnete Gesicht, doch dort war niemand mehr. Simeons Faden im Webmuster war am Ende angekommen, Miru-kai allein im Zimmer.
Eine, höchstens zwei Minuten später versiegte das rasselnde Atmen, das nichts weiter mehr darstellte als das letzte Flackern erlöschender Fackeln in einem Festsaal.
Den Rest der Nacht hielt Miru-kai Simeons Hand. Dunkelfeen weinten nicht; dazu waren sie gar nicht fähig. Ihnen brach das Herz nicht, weil ein fragiler Mensch starb.
Dem Prinzen indessen, dem Enkelsohn eines sterblichen Stammesoberhaupts, brach das Herz unter Tränen.
Freitag, 3. April, 19.30 Uhr North-Central-Einkaufszentrum
Ich bin derart im Eimer!
Zwei Stunden später holte Ashe ihre Jacke und Handtasche aus dem Personalraum. Es war halb acht und sie am Verhungern und arbeitslos. Beides wäre hoffentlich nur vorübergehend.
Sobald der Sicherheitsmann begriffen hatte, was los war, hatte er die Cops gerufen und Ashe ihren Boss. Der Bibliotheksleiter war gleichzeitig mit der Polizei eingetroffen.
Sie alle hatten eine Menge zu sagen gehabt: Man pfählte Kunden nicht einfach. Man zeigte sie an! Suspendierung. Gewerkschaftsvertreter. Presse. Nichtmenschliche Rechtsfälle. Bla, bla. Vampirstaub ließ sich schwer aus Teppichboden entfernen. Bla, bla.
Wie sollte die Polizei die Identität klären? Hatte er irgendwelche besonderen Merkmale aufgewiesen?
Welche denn? Die Reißzähne vielleicht?
Mit solch einer Haltung, junge Frau, schaden Sie sich nur selbst. Bla, bla, bla.
Schließlich hatte Ashe ihre internationale Jagdlizenz aus ihrer Brieftasche geholt, was die anderen ein bisschen beruhigte.
Reynard zeigte ihnen einen von staatlicher Stelle ausgegebenen Nichtmenschlichenausweis. Anscheinend hatte Mac, der ehemalige Detective bei der örtlichen Polizei, veranlasst, dass alle Wachen Ausweise erhielten. Reynards überzeugte die Polizisten fast so sehr wie die Jagdlizenz, erst recht als Macs Name erwähnt wurde. Der Ex-Polizist und Dämon hatte hier nach wie vor Freunde.
Zum Glück waren Mrs. F. und Gina geblieben und konnten aussagen. Beide beschrieben Ashe und Reynard als eine Art Kreuzung zwischen Erzengel und Superheld. Die junge Studentin, die der Vampir gepackt hatte, wurde identifiziert und angerufen. Sie würde morgen ihre Aussage machen, denn momentan war sie zu verängstigt, um das Haus zu verlassen. Sie wollte nicht vor die Tür treten, solange es dunkel war.
Widerwillig ließ der leitende Polizist Ashe gehen, nachdem sie ihm hatte versprechen müssen, auf dem Revier zu erscheinen und dort ihre Geschichte offiziell zu Protokoll zu geben. Jäger kamen mit Mord davon, sofern sie hinterher die richtigen Formulare unterschrieben.
Ihr Chef zeigte sich weniger nachsichtig. Da im »Übergreifenden Bibliothekenerlass« – von den Mitarbeitern kurz ÜBE l genannt – Vampirtötungen nicht vorgesehen waren, wurde Ashe ohne Lohnfortzahlung suspendiert, bis das Direktorium über den Fall entschieden hatte. Man riet ihr, sich am nächsten Morgen bei ihrem zuständigen Gewerkschaftsvertreter zu melden.
An diesem Punkt war Ashe schon alles egal gewesen. Sie würde sich damit befassen, nachdem sie etwas gegessen und ihre Tochter umarmt hatte.
»Wo willst du hin?«, fragte Reynard. Er stand in der Pausenraumtür, die Arme verschränkt und einen Verband um das eine Handgelenk, wo der Vampir ihn gebissen hatte. Natürlich stand er erbarmungslos aufrecht wie immer da, aber die legere Kleidung verlieh ihm ein entspannteres Aussehen. Was allerdings auch an Ashes leichter Benommenheit liegen mochte, die sich gewöhnlich nach Pfählungen einstellte.
Sie antwortete nicht gleich, sondern packte weiter alles in eine Plastiktüte, was sie über die letzten paar Monate im Personalraum deponiert hatte. Falls sie gefeuert wurde, wollte sie nicht herkommen müssen, um ihre Brotdosen und die alten Zeitschriften zu holen, die sie sich aus dem Altpapierstapel gegriffen hatte.
Außerdem lieferte ihr das Packen einen praktischen Vorwand, Reynard nicht anzusehen. Auch wenn der Kuss sie nicht verlegen machte, warf er doch einige Fragen auf, mit denen sie sich im Moment lieber nicht auseinandersetzen wollte. Beispielsweise die, ob sie womöglich bereiter für einen neuen Mann in ihrem Leben war, als sie gedacht hatte. Die Umarmung hatte etwas in ihr wachgerüttelt. Etwas, von dem sie nicht
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