Seelenkuss / Roman
genau das machte das Geheimnis aus. Ein Anstupsen hier, ein Ausweichen dort … Miru-kai hatte seine Gabe nicht eingebüßt. Bis heute hätte er Kobolden Warzen verkaufen können.
Aber war er in der Lage, dies hier zu richten?
Schatten bewegten sich über die Mauern, als er aufstand und sich neben Simeons Bett kniete. Der alte Mann schlief, atmete schwer ein, rasselnd wieder aus. Dieser Sterbliche war so vieles für Miru-kai gewesen: Ratgeber, Lehrer, Saufkumpan, derjenige, der seine Wunden wusch. Besäße sein eigenes Blut die Macht des Heilens, Miru-kai hätte sich umgehend die Adern geöffnet.
Doch nein, Blut war keine Lösung. Miru-kai legte behutsam eine Hand auf die weichgewalkten Laken und spürte die Knochen darunter. Simeon verfiel rasch, bekam immerfort mehr Falten und Runzeln, noch während der Prinz zögernd überlegte.
Jede Fee hatte die Pflicht, ihre Menschen zu schützen.
Ist es das, was Simeon wollen würde?
Er nahm die Urne auf, die er willkürlich in dem Tresorraum ergriffen hatte, nur ein kurzes Zuschnappen, als er sich unsichtbar machte und vor Reynards unheiligem Zorn floh. Die Goldfarbe fühlte sich glatt unter seinen Fingerspitzen an, die Form setzte sich aus einer gefälligen Kombination von Rundungen zusammen, die in einem leicht spitzen Griff oben auf dem Deckel endeten. Zwischen Deckel und Gefäß prangte ein Siegel aus weißem Wachs. Darin befand sich das Leben eines Mannes.
Diese Trennung von Körper und Seele machte die Wachen so gut wie unsterblich. Der Irrwitz bestand darin, dass sie ihnen zugleich zwei Arten des Sterbens bescherte. Wurden Leib oder Seele vollständig zerstört, vergingen beide Hälften. Brach Miru-kai das Siegel, würden sowohl die Seele als auch der dazugehörige Körper sterben.
Es sei denn, er wandte Hexerei an. Er könnte das Leben aus dem tönernen Gefängnis stehlen und es Simeon geben.
Allein der Gedanke wäre ihm verhasst.
Miru-kai begann, das Gefäß umzudrehen, um den Namen an der Seite zu lesen, hielt jedoch inne. Er kannte viele der Wächter beim Namen. Zu wissen, wessen Urne es war, würde deren Gebrauch erschweren, sich wie Mord anfühlen.
»Kai?«
Er sah erschrocken auf.
»Was tust du?« Simeon hob seinen Kopf nicht vom Kissen, doch er betrachtete den Prinzen streng durch halbgeschlossene Augen.
»Nichts.«
»Du siehst aus, als würde dich dein Gewissen plagen.«
Unsicher biss der Prinz sich auf die Lippen und dachte an die unzähligen Male, die sein alter Freund denselben Satz ausgesprochen hatte, auf dieselbe Weise, seit der Prinz ein Kind gewesen war. Beispielsweise, nachdem er sich auf einem von seines Vaters Pferden davongestohlen oder wenn er bei seinen Hausaufgaben gemogelt hatte.
Miru-kai holte tief Luft. »Ich habe vielleicht einen Heilungsweg gefunden.«
Simeon wirkte müde. »Es gibt keinen.«
Enttäuschung und Wut überkamen den Prinzen. »Ich nehme nicht hin, was du mir von Sterblichen erzählst, die sich fortbegeben müssen. Fort wohin denn?«
»Ich kämpfte in den Kreuzzügen. Gebrauche deine Phantasie.«
Miru-kai raunte einen Fluch. Stets stritten sie über Philosophie – das Feen-Webmuster gegen die menschliche Deutung von Schicksal und freiem Willen. »Gewiss kann der Tod nicht besser sein als das Leben.«
Simeons Augen fielen zu und öffneten sich mühsam wieder. »Wenn ich kann, komme ich zurück und berichte dir, was ich herausgefunden habe.«
»Nein!«
»Wie du wünschst.«
»
Nein!
Ich will keine Verkündung aus dem Jenseits. Ich brauche dich hier!« Miru-kai senkte sein Haupt, weil er Simeons Blick nicht mehr aushielt.
Nun drehte er die Urne um, las den Namen und erstarrte.
Bran. O nein!
Er hatte den üblen Wächter in der Schlacht letzten Herbst sterben gesehen. Folglich war die Urne leer.
Bei Oberons haarigen Eiern!
Er war der verschlagenste Dieb unter den Dunkelfeen, und dennoch hatte seine Eile alles ruiniert. Er war so darauf erpicht gewesen, sich eine der Wächterseelen zu schnappen und zu verschwinden. Eine zweite Chance gäbe es nie wieder – zumindest nicht rechtzeitig für Simeon.
Hätte ich mir doch nur Zeit gelassen, die Namen gelesen, ein wenig List angewandt und den Auftrag anständig erledigt!
»Kai?«
Mein Versagen bringt ihn um.
»Was ist?«
Die Antwort erfolgte leise und schleppend. »Sorge dich nicht zu sehr.«
»Wage es ja nicht zu gehen!« Miru-kais Stimme brach, klang klein, jung und verängstigt, trotz seiner vielen, vielen Jahre.
Keine Erwiderung.
Er spürte die sich
Weitere Kostenlose Bücher