Seelenkuss / Roman
Buchladen an der Ecke Fort und Main lag in einem alten zweigeschossigen Stadthaus, dessen Vorgarten von einem niedrigen Lattenzaun eingerahmt wurde. Entlang des schmalen Zuweges waren einige Hyazinthen gepflanzt, die gerade zu blühen begannen. Der Rest des Gartens hätte dringend einmal von Unkraut befreit werden müssen. Ashe und Reynard gingen zur Veranda. Die Farbe an den Fenstern und der Verandabrüstung blätterte ab, und das tote Laub vom letzten Herbst häufte sich in den Nischen und Ecken der Stufen.
Ein Holzschild über der Tür trug die sorgfältige Aufschrift BOOK BURROW . Dieser Name hatte Ashe gleich beim ersten Mal, das sie ihn hörte, aufmerken lassen, obwohl ihr nicht einfallen wollte, warum er ihr bekannt vorkam.
»Dieses Haus wurde sehr vernachlässigt«, bemerkte Reynard.
»Falls der Besitzer neu ist, hatte er vielleicht noch keine Zeit, alles aufzuräumen«, erwiderte Ashe. »Ich erinnere mich an dieses Geschäft. Früher gehörte es dem alten Mr. Cowan. Er legte mir immer die Nancy Drews zurück und wusste genau, welche ich noch nicht gelesen hatte.«
»Nancy Drew?«, fragte Reynard.
Ashe stieg die Verandastufen hinauf. »Krimis. Mit zehn Jahren hatte ich die gesamte Reihe.« Sie blieb stehen und versuchte, etwas Komisches an dem Haus zu erspüren. Es war nicht fühlend, einfach nur ein Haus, aber eine blasse Traurigkeit waberte wie Rauch in der Luft. Was hier spukte, vermisste womöglich den alten Mr. Cowan. Ashe drehte den Messingtürknauf und trat ein. Die Türglocke bimmelte.
Reynard folgte ihr und schaute sich um. Der Boden knarrte unter seinen Stiefeln. »Es riecht nach Schimmel.«
»Vielleicht ist das Dach undicht.« Ashe kämpfte mit einem Anflug von Klaustrophobie. Hier hatten immer schon viele Bücherregale herumgestanden, doch sie schienen sich vervielfacht zu haben. Nun reihten sie sich zu beiden Seiten des Flurs entlang und neigten sich bedenklich vor, wo die alten Dielen ausgetreten waren. Bücherstapel türmten sich in den Ecken. »Ich entsinne mich nicht, dass es so vollgeräumt war. Hier müssen doppelt so viele Bücher sein wie früher.«
Pappschilder waren an die Wände getackert, jedes mit einem Pfeil und einem Themenbereich. Kochen: hier entlang. Militärgeschichte: dort. Romane: oben. Während Ashe die Schilder betrachtete, vernahm sie ein leises Geräusch von links, nicht mehr als einen Schritt auf dünnem Teppich. Sie fuhr herum, schreckhafter als nötig. Dort war nichts – kein Monster, das aus dem Schatten auf sie zustürzte. Sie atmete tief ein und langsam wieder aus.
Der Laut war aus dem Zimmer gekommen, in dem ehemals der Kassentresen gestanden hatte und wo wahrscheinlich Hollys Kunde wartete. Ashe horchte. Nichts wirkte bedrohlich.
Wieso bin ich dann so nervös?
Geh schon!
Das Beste war, dem Geräusch zu folgen.
Ashe musste vorsichtig gehen, damit sie nichts umwarf. Der neue Name des Buchladens passte, denn er hatte wirklich etwas von einem Fuchsbau, durch dessen Tunnelgang man sich arbeiten musste. Reynard lief ein wenig seitlich, weil seine Schultern zu breit für die schmalen Gänge waren. Hoch über ihnen fiel fahles Licht durch ein Buntglasfenster auf das Chaos.
Der Hauptraum des Buchladens sah größtenteils aus, wie Ashe ihn in Erinnerung hatte. Die Wände bildeten ein Sechseck, und hohe Bücherschränke mit Glasfronten ragten bis zu der dreieinhalb Meter hohen Decke hinauf. Über eine Bibliotheksleiter auf Rollen gelangte man an die oberen Regalfächer. Ein Erkerfenster wies zur Straße. Reynard blieb stehen und schaute in einen Glaskasten. Ein ausgestopftes Murmeltier drohte mit gebleckten Zähnen in seinem staubigen Gefängnis. »Wozu will jemand so etwas?«
»Keine Ahnung – vor allem, wo es da drüben so ein hübsches zweiköpfiges Eichhörnchen gibt. Komm!«
Er zögerte, diesmal abgelenkt von einer Sammlung Modellsegelschiffe.
»Reynard?«
Er zeigte auf das Schiff in der Mitte. »Auf so einem segelte ich nach Indien.« Er richtete sich wieder auf. »Es war allerdings ein bisschen größer.«
Ashe stellte sich Reynard auf hoher See vor und fühlte sich verwirrt. Ihn sich in der Vergangenheit auszumalen schien richtig und falsch zugleich.
»Siehst du hier jemanden?«, fragte sie.
»Nein.«
Der Ladentresen befand sich noch an derselben Stelle, hinten im Raum. Eine riesige antike Kasse mit jeder Menge Messingapplikationen stand auf dem Mahagonitresen.
»Hallo?«, rief Ashe. Leider erstarben die Laute praktisch in dem Moment, in
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