Seelenkuss / Roman
das Kinderzimmer. Früher war es Grandmas Zimmer gewesen, und ihrem viktorianischen Geschmack verdankten sich die Blümchentapete und der rosa Teppich. Holly hatte den Raum zu einem zweiten Babyzimmer gemacht, das näher lag als das ursprüngliche im zweiten Stock.
»Dieses Zimmer fühlt sich komisch an«, flüsterte Eden, »superstill.«
»Das liegt daran, dass das Haus Robin bewacht. Es hält jeden fern, der einem von uns etwas tun will.«
»Einem von uns?«
»Einem aus der Familie.«
»Cool.«
»Und ob!« Ashe küsste Eden auf das lockige Haar. »Hier sind das Haus, die Höllenhunde, Tante Holly und Onkel Alessandro, die auf dich aufpassen. Es ist der sicherste Platz in ganz Fairview.«
»Haben Grandma und Grandpa auch hier gewohnt?«, fragte Eden.
Ashes Magen krampfte sich zusammen. Sie fühlte die Geister der Vergangenheit, die sie umschwebten. »Früher war es ihr Haus. Holly und ich sind hier groß geworden.«
Eden sah zu ihr auf. »Sind hier irgendwo Bilder von ihnen?«
»Frag Tante Holly. Sie weiß, wo welche sind. Und jetzt gucken wir uns Robin an.«
Ashe näherte sich vorsichtig der Babywiege in der Mitte des Zimmers. Robin war gesund, allerdings etwas zu früh auf die Welt gekommen und immer noch winzig. In dem rosa Babyschlafsack hatte die Kleine dieselbe Form wie ein Lebkuchenmännchen. Ihr Haar war weizenblond wie das ihres Vaters, auch wenn es bisher nicht allzu viel war: Ein einziges lockiges Flaumbüschel saß wie eine Krone auf ihrem Kopf, gleich einem Sahnehäubchen auf einer Eiswaffel.
»Sie sieht so witzig aus!«, hauchte Eden.
»Schhh! Sag das ja nicht zu Tante Holly!« Ashe wurde ganz warm ums Herz. »Alle Babys sehen so aus.«
Robin würde einmal wunderschön werden. Ashe glaubte, Züge von beiden Elternteilen an ihr zu erkennen: den geschwungenen Mund von Holly, die gerade Nase von Caravelli. Es dürfte spannend werden zu sehen, was aus diesem Wunderkind würde, welche Kräfte die Kleine einst besäße.
Ashe legte beide Hände an den Wiegenrand. Zu gern hätte sie die blütenzarte Haut berührt, sie wollte Robin aber nicht wecken. Ashe hatte sich immer mehr Kinder gewünscht. Wenigstens gab es nun noch eines in der Familie, und die Tante zu sein hatte gewisse Vorzüge.
Eden lächelte. »Wetten, dass ich sie nachher auf den Arm nehmen darf?«
»Wenn du ganz viel Glück hast, darfst du ihre Windel wechseln.«
Eden zog eine Grimasse.
Nun kamen Reynard und Holly herein. Trotz seiner eleganten Bewegungen wirkte der Captain eindeutig zu groß für diesen sehr femininen Raum. Als er in die Wiege blickte, wurden seine Gesichtszüge merklich weicher. »Hallo, kleines Mädchen!«
Wie er es sagte, mit diesem Akzent, ließ Ashe dahinschmelzen. »Haben Babys sich sehr verändert?«
Reynard sah auf, und in seinen grauen Augen nahm Ashe einen Ausdruck wahr, den sie nicht benennen konnte. Bedauern? Nein, tiefer, als wären der böse Junge und der Gentleman beiseitegetreten, um erstmals dem wahren Reynard Platz zu machen.
»Nein«, antwortete er mit rauher Stimme, »ganz und gar nicht. Meine Nichte und mein Neffe sahen genauso aus.«
Lor kehrte erst am nächsten Morgen zurück, so dass Ashe und Reynard reichlich Zeit blieb, um Hollys Geistervertreibung zu übernehmen. Ashe war froh, dass es schnell erledigt wäre, denn sie hatte weit interessantere Sorgen, zu deren vorrangigsten der Mann zählte, der neben ihr saß. Der zweite Tag ihrer Urnensuche war fast zur Hälfte herum, und Ashe hatte weder eine Spur noch eine Ahnung, wo sie mit der Suche anfangen sollte. Sie war eine Jägerin, kein Detective.
»Eines der übernatürlichen Probleme anzugehen wird Licht auf die anderen werfen«, hatte Reynard behauptet, während er mit den Mysterien des Sitzgurtes rang. Ashe hoffte, dass er recht hatte.
Ihr Erlebnis mit Reynard heute Morgen hatte zweifelsfrei ergeben, dass ihr Kopf sagen mochte, was er wollte – ihr Körper bestand darauf, ihn sehr viel besser kennenzulernen. Und die Fragmente ihrer Selbstbeherrschung drohten jeden Moment durchzuglühen.
Sie ertappte sich bei dem Gedanken, ob Reynard sich für eine langfristige Beziehung eignete. Was natürlich absurd war. Offenbar war ihre Libido nicht die Hellste. Folglich empfand Ashe beinahe Erleichterung, als sie ihr Ziel erreichten. Die letzten paar Hirnzellen, die ihr geblieben waren, brauchte sie für die Aufgabe, die ihnen bevorstand.
Sie fand eine Parklücke, brachte den Parkuhrgöttern ein Opfer und blickte sich um.
Der
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