Seelenkuss / Roman
dem sie über ihre Lippen kamen. Bei so vielen Büchern war die Akustik miserabel. »Hallo?«
»Ich sehe in den anderen Räumen nach«, sagte Reynard und zog die Brauen zusammen.
»Vergiss nicht, dass er ein Ladenbesitzer ist, kein Dämon!«
Ein bisschen empört blickte er zu ihr. »Meinst du, ich hätte vergessen, wie man mit gewöhnlichen Menschen umgeht?«
»Na ja, du hast gerade ziemlich streng gewirkt. Ich meine ja bloß …«
»Ich werde auf meine Manieren achtgeben, Madam«, fiel er ihr ein bisschen frostig ins Wort, aber mit einem amüsierten Funkeln in den Augen. Er ging zurück in den hinteren Teil, aus dem sie gekommen waren. Der leichte Hüftschwung machte sich in der Jeans sehr nett, wie Ashe feststellte.
Ihr Herz wechselte vorübergehend in einen Galopp. »Tut das, Sir Galahad!«
Job! Du hast einen Job zu erledigen, schon vergessen?
Sie versuchte noch einmal, die Stimmung des Hauses zu erfühlen, indem sie ihre eigene Energie ausströmen ließ, bis sie den Geist der Räume berührte. Alte Gebäude sammelten sowohl Erinnerungen als auch Stimmungen. Sie stellten keine aktive Magie dar, sondern Ablagerungen vergangener Jahre.
Schwer. Müde. Traurig.
Nichts als eine matte Ahnung. Die Bücherberge erstickten das Gefühl, absorbierten die Hausenergie ebenso wirkungsvoll wie Geräusche und Licht. Ashe konnte auch jeden einzelnen Band fühlen, Reihe um Reihe an Präsenzen, gesättigt von den Auren aller Leser, die darin geblättert hatten. Einige Bücher wiesen mehr als das auf, manche pulsierten vor Magie. Interessant, aber deshalb war Ashe nicht hier.
Sie streckte ihre Sinne weiter, über die Wände hinaus. Reynard suchte in den Zimmern zur Rechten. Mäuse trippelten hinter den Fußleisten, verharrten schnuppernd. Oben, weit oben, wartete jemand. Kein menschlicher Jemand.
Diese Präsenz jagte Ashe einen kalten Schauer über den Rücken. Ja, sie hatte eindeutig eine Geistervertreibung vorzunehmen.
Warum ist der Besitzer nicht hier?
Hinter dem Tresen war eine offene Tür, durch die Ashe eine Treppe sehen konnte, die nach oben führte. Sie war schlicht und steil, ursprünglich wohl ein Bedienstetenaufgang. Die Haupttreppe befand sich vorn neben der Eingangstür.
Ashe schritt um den Kassentresen herum und schlüpfte durch die Tür, auf der PRIVAT stand. Hier hinten war sie noch nie gewesen, und entsprechend neugierig sah sie sich um. Der Raum war mit leeren Pappkartons vollgestellt, das alte Linoleum von einem knirschenden Schmutzfilm überzogen.
Alles war von dem säuerlich-stickigen Geruch mangelnder Pflege überlagert. Kein Wunder, dass hier Geister hausten! Sie liebten Häuser, um die niemand sich kümmerte.
Reynard kam zu ihr. »Ein recht willkürliches Sammelsurium. Hätte ich doch nur die Zeit, um etwas zu lesen!«
»Hast du den Eigentümer gefunden?«
»Nein, aber hinter dem Haus gibt es einen Schuppen.« Er lehnte sich an die Wand, und seine Arm- und Brustmuskeln bewegten sich unter dem schwarzen T-Shirt. Im nächsten ›Workrite‹-Katalog würde er sich verdammt gut machen. Fehlten nur noch ein Helm und ein Schild, auf dem stand: ECHTE MÄNNER BRAUCHEN KEINE AKKUSCHRAUBER .
Ein Schweißtropfen kullerte Ashe den Rücken hinunter und ließ sie frösteln. Angst und Lust rangen miteinander. Ashe blickte die Treppe hinauf, wo sie noch mehr Bücherregale entdeckte. Im zweiten Stock war früher die Belletristikabteilung untergebracht. Die Nancy-Drew-Bücher standen damals in einem schmalen Fenster, das zur Fort Street hinausging.
Was würde Nancy tun? Würde sie jemals ihren Fall vergessen und über einen Kerl herfallen?
Nein, Nancy hätte inzwischen den Eigentümer gefunden, der sich in einem Geheimgang versteckte, den Bösewicht vertäut und wäre in ihrem flotten blauen Roadster davongebraust, ohne sich ein einziges ihrer tizianroten Haare zu verwirren.
Streberkuh!
Ashe spürte die nichtmenschliche Präsenz oben, die spinnengeduldig lauerte. Allmählich ging das Ding ihr gewaltig auf die Nerven, und sie hatte eine ganze Tasche voll mit Hollys Talismanen dabei. »Ich guck mir den oberen Stock an.«
Reynard nickte. »Ich sehe im Schuppen nach und komme dann zu dir nach oben.«
»Okay.«
Leise wie eine Katze schlich er davon.
Ashe holte einen Pflock aus der Seitentasche ihrer Hose. Nicht dass sie damit einen Geist hätte töten können, aber mit ihm in der Hand fühlte sie sich besser. Sie rollte die Schultern, um den Knoten zwischen ihren Schulterblättern zu entkrampfen, und begann,
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