Seelenkuss / Roman
die Stufen hinaufzusteigen.
Auf, auf zum munteren Jagen!
Es gab keinen Handlauf, und die Treppe war durchgetreten, was das Gehen ein bisschen unsicher machte. Dafür war der zweite Stock relativ unverbaut. Leise bewegte Ashe sich durch die Belletristikabteilung zu den Krimis und ließ den Blick über Regale und Bücherschränke wandern, die in allen vier oberen Räumen die Wände einnahmen. Das einzige Licht fiel durch ein schmutziges Schiebefenster herein, dessen Zugbänder gerissen und Rahmen dick zulackiert waren. Draußen sah sie Reynard, der aus dem Schuppen kam. Dem Anschein nach hatte er dort niemanden gefunden.
Ashe ging weiter, hielt nach Anzeichen für einen Geist Ausschau, stellte jedoch fest, dass dieses Stockwerk viel weniger unheimlich anmutete als das untere. Genau genommen hatte sich hier kaum etwas verändert seit jenen Kindertagen, in denen sie oft hier gewesen war. Es stand immer noch eine Handvoll alter vergilbter Nancy-Bände an demselben Platz wie damals. Das Schiebefenster neben dem Regal – das einzige, das sich öffnen ließ – war nach wie vor dasselbe. Hier hindurch gelangte man zur Feuertreppe, die im Zickzack seitlich am Haus verlief. Mr. Cowan hatte sie manchmal dort draußen sitzen und lesen lassen. Er war ein netter alter Mann gewesen.
Nachdem sie einmal durch den ganzen ersten Stock gelaufen war und nichts gefunden hatte, entspannte Ashe sich ein wenig. Aus purer Nostalgie zog sie
Der Mann in Schwarz
aus dem Regal. Es handelte sich um den ersten Nancy-Drew-Band, den sie gelesen hatte. Sie fragte sich, ob ihre alten Bücher noch existierten und ob Eden sie mögen würde.
»Haben Sie gefunden, wonach Sie suchen?«
Ihren Pflock erhoben, schwang sie herum, bereit zuzuschlagen. Das Buch fiel mit einem dumpfen Knall zu Boden.
Ein Mann stand dort, die Hände in den Taschen seiner Baumwollhose vergraben. »Sie müssen die Geisteraustreiberin sein, die ich herbestellt habe.«
»Ja«, antwortete Ashe und kam sich selten blöd vor.
Er war ein paar Zentimeter kleiner als sie und einige Jahre älter, hatte dunkles lockiges Haar, große braune Augen und einen Zweitagebart. Als er lächelte, zeigte er weiße Zähne und ein paar Grübchen, die dafür gemacht waren, weibliche Herzen zum Schmelzen zu bringen.
»Ich bin Tony«, stellte er sich vor. »Willkommen in meinem Chaos!«
»Sie haben einen beachtlichen Bestand.«
»Mir wurde gerade die Bibliothek eines riesigen Anwesens geschickt, und ich bin noch dabei, Platz für alles zu finden.«
Er verströmte eine unbekümmerte, entspannte Aura. »Entschuldigen Sie, dass ich nicht unten war, um Sie zu begrüßen. Ich hieve schon den ganzen Tag Bücherkisten nach oben und habe wohl die Türglocke überhört.«
Ashe nahm langsam den Pflock herunter und bückte sich, um das Buch aufzuheben. »Ich bin Ashe Carver. Mein Partner ist unten. Also, Sie haben einen Geist?«
Tonys Blick wanderte von Nancy Drew zu dem Pflock; offensichtlich versuchte er, beides zusammenzubringen. »Ja, auf dem Dachboden. Ich wollte ihn als Lagerraum nutzen, aber das ist ausgeschlossen, solange der Geist dort herumspukt.«
Womit eindeutig feststand, dass der Geist oben die unheimliche Präsenz war, die sie gespürt hatte.
Tony sah sie neugierig an. »Ich dachte, Sie heißen Holly.«
»Holly ist meine Schwester. Die Agentur ist ein Familienunternehmen.« Sie konnte ja schlecht sagen, dass sie die Ersatzhexe war. Ashe schaute sich um. »Wo geht es zum Dachboden?«
»Hier entlang. Passenderweise ist der Zugang im Zimmer mit den Krimis.«
Er schritt auf die Tür zu und vergewisserte sich, dass sie ihm folgte. Ashe stellte das Buch zurück und ging ihm nach.
»Und wer ist dieser Geist? Den Laden gibt es schon seit Jahren, und ich habe noch nie etwas von Geistern hier gehört. Früher war ich dauernd hier.«
»Vor hundert Jahren starb ein Kind in diesem Haus. Ihren Namen weiß ich nicht, aber aus unerfindlichen Gründen macht die Kleine plötzlich Theater.«
»Was genau tut sie?«
»Sie singt. Sie poltert herum. Macht Krach.«
Ashe sah ihn an.
»Es ist schlimmer, als es sich anhört«, erklärte Tony achselzuckend. »Sie weiß sehr gut, wie sie einem Angst einjagt.«
»Ist um die Zeit herum, als der Geist erstmals auftauchte, irgendetwas passiert? Ruhende Geister werden selten unvermittelt aktiv.«
»Der alte Besitzer starb. Vielleicht vermisst sie ihn.«
Die Bodentreppe befand sich hinter einer Tür, und diese wiederum bildete eines der Bücherregale, das
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