Seelenkuss / Roman
der Hitze, ich rufe dich zu diesem Feste!«
Ihre Worte kamen in kleinen Dampfwolken heraus, und ihr lief die Nase. Die Glühbirne über der Treppe – das einzige Licht auf dem Dachboden, abgesehen von Ashes Taschenlampe – erlosch zischelnd. Wieder hörte sie Schritte und das leise Weinen eines Kindes. Schluchzen. Die herzzerreißende, verzweifelte Traurigkeit, wie sie nur ein kleines Kind ausdrücken konnte. Ashe erstarrte, denn das Geräusch sog ihr buchstäblich die Kraft aus den Gliedern.
Wie konnte irgendjemand solch ein Weinen ertragen? Es machte das pure Unglück eines verlassenen Kindes deutlich. Ashe empfand den Kummer mit ihrem ganzen Leib und tief in ihrem Bauch. So hatte Eden geweint, als ihr Vater gestorben war. Hatte sie genauso geweint, als Ashe sie in St. Flos ließ?
Göttin! Göttin, vergib mir!
Ashe fühlte, wie Tränen auf ihren Wangen gefroren.
Hör auf damit! So kriegen dich die Geister, mit deinen eigenen Ängsten!
Sie musste durchhalten, stärker sein.
Westwand. Es war so dunkel, dass sie kaum noch sehen konnte, aber irgendwie bekam sie noch einen Talisman aus der Tüte und an die richtige Stelle.
»Göttin des Schoßes und des Herzens, zerreiße diese irdischen Bande!«, murmelte Ashe mit klappernden Zähnen. Sie hoffte, dass die himmlischen Geister Gedanken lesen konnten, denn was sie gesagt hatte, waren weniger Worte als gefrorene Atemstöße gewesen.
Eine Stimme lispelte dicht an ihrem Ohr: »Er will, dass ich weggehe, weil ich sehen kann, was er ist. Ich versuche, ihn aufzuhalten. Hilf mir! Er ist sehr, sehr böse.«
Ashe drehte sich zu schnell um und stolperte, weil ihre Füße mittlerweile auch gefühllos waren.
Das war das kleine Mädchen gewesen.
Ihn aufhalten? Wen aufhalten?
Die Temperatur schoss nach oben, so dass es auf einmal wieder stickig heiß war. Ashe stand zitternd da, während ihr Körper versuchte, die Wärme in sich aufzunehmen. Das Treppenlicht ging flackernd an.
Irgendetwas fühlte sich verflucht falsch an.
Ashe rannte zur Nordwand und warf den Talisman beinahe, so eilig hatte sie es. »Göttin der Erde und der arktischen Welle, sende diesen Geist in sein Grab!«
Sie merkte, wie der Kreis der Talismane sich schloss und so einen Raum schuf, in dem ernsthafte Magie beginnen konnte. Die letzten Gegenstände in der Tüte waren ein Streichholzheftchen – Holly traute niemandem zu, selbst an welche zu denken – sowie eine Kerze, in die aufwendige Muster geschnitzt waren. Ashe kippte beides aus, stopfte die Tüte in ihre Tasche und suchte sich den Punkt in der Mitte des Kreises. Die Kerze direkt im Zentrum zu plazieren garantierte gleichmäßige Strömungen, während der Zauber wirkte. Gleich über ihr trafen sich die Dachbalken und liefen die vier Hauswinkel zusammen.
Bestens.
Die Kerze war kurz und dick, kam also ohne Halter aus. Ashe stellte sie hin und öffnete das Streichholzheftchen.
Und fühlte, dass etwas sie aus der Nordostecke, gleich außerhalb des Kreises beobachtete. Automatisch zog sie ihre Schultern an und beugte sie, um ihren Nacken vor zuschnappenden Raubtieren zu schützen. Der Schatten wurde von dem Kreis verbannt und starrte hinein, doch die Talismane sendeten lichtgebundene Magie aus. Das hier war Hardcore-abgedreht. Ashe kannte diese Schwingungen.
Mist!
Es könnte mehr als nur ein Geist sein. Vielleicht hatte das kleine Geistermädchen einen Freund. Oder das fiese, üble Ding war eingezogen und hatte den Geist des kleinen Mädchens aufgeschreckt.
Ihre Angst energisch im Zaum haltend, riss Ashe ein Streichholz ab und zündete die Kerze an. »Lass los, lass los, lass los! Ich befehle dir, dich zur Ruhe zu betten!«
Die Flamme streckte sich dünn und hoch aus, blauweiß an der Spitze. Was bedeutete, dass die Magie wirkte. Ashe atmete den Duft von Bienenwachs ein, nutzte ihn, um die mentalen Schilde zu stärken, die sie immer noch besaß. Sie konnte Zimt riechen, der übersinnliche Portale öffnete, und Birke, Tannengrün und Thymian zur Reinigung. Ah, und Lavendel. Den verwendete Grandma für alles.
Ashe schloss die Augen, sperrte die Dunkelheit aus, die sich entlang der Kreidelinie verdichtete. Bisher war sie still, und daran sollte sich tunlichst nichts ändern. Mit Geistern zu plaudern war nicht immer klug.
»Du solltest nur das Mädchen vertreiben.«
So viel zur Stille.
Bei der Stimme handelte es sich nicht um die des Mädchens. Sie klang eher nach einem Blubbern aus einer Grube voller verwesender Leichen.
»Bist du der
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