Seelenkuss
Das Fläschchen entglitt ihren gefühllosen Fingern. Alles um sie her wankte. Sie fiel neben ihn. Ihr Kopf schlug auf seine kalte Schulter. Ihre Hand fand seine, umschloss sie. Ihre Brust brannte. Sie bekam keine Luft. Panik schwemmte über sie hinweg. Sie klammerte sich an ihn… Dunkelheit legte sich über Darejans Geist und sie stand an Rand des SúrKadin. Doch aus dem riesigen schwarzen See war ein Fluss geworden, dessen tiefdunkles Wasser bewegungslos dahinströmte. Trübes, düsteres Halblicht warf scharfe Schatten. Alles um sie her war grau, so als gäbe es hier keine Farben.
Verwirrt sah sie sich um. Da waren die Felsen, die ihr Versteck schützten. Das schwarz glänzende Wasser spülte ohne ein Rauschen auf den schwarzen Sand der kleinen Bucht hinauf, in den sie beinah fingerbreit einsank. Dort, wo zerklüftetes Gestein bis direkt ans Wasser geragt hatte, war jetzt ein breites Ufer, das sich bis in die Endlosigkeit zu erstrecken schien. Sie war allein. Über dem Felskamm stieg gerade der Vollmond in den Himmel. In einiger Entfernung glaubte sie, Schatten am Wasser entlanggehen oder einfach nur dastehen zu sehen. Nebelschlieren trieben über den Schwarzen Fluss. Sie blickte über ihn hinweg, zu den Felsen auf seiner anderen Seite. Doch dort, wo sich die Silhouette des CordánDún vor dem Nachthimmel abzeichnen sollte, war… nichts. Bis sich aus den fahlgrauen Schwaden, die über das spiegelnde Wasser wehten, der Bogen einer Brücke schälte, die sich über den gesamten KaîKadin zu spannen schien und zugleich in einer Wand aus Nebel verschwand, die sie war. Darejan schluckte und starrte auf die TellElâhr, die Brücke der Toten. Dies war der Übergang ins Jenseitsreich. Wo sonst sollte sie Javreen finden, wenn nicht dort, nachdem er den neuen KonAmàr vom Hüter der Seelen selbst erbitten musste.– Auch wenn die Vorstellung, ihm dorthin zu folgen, ihr die Kehle zuschnürte: Sie hatte keine andere Wahl. Allerdings würde sie ihn nie einholen– geschweige denn finden–, wenn sie nur hier herumstand. Und ohne ihn war sie hier verloren. Die Hände zu Fäusten geballt, verdrängte sie den Gedanken und setzte sich in Bewegung– und erschrak, als der fahle schwarze Bogen unvermittelt so nah vor ihr aufragte, dass sie den Strom von Menschen sehen konnte, der sich über ihn bewegte. Nur wenige gingen Hand in Hand. Die meisten waren allein. Und dann betrat auch Darejan die schwarzen glatten Brückensteine. Gesichter wandten sich ihr zu. Augen richteten sich auf sie, musterten sie. Eine Frau, die ein kleines Mädchen an der Hand hielt, lächelte ihr zu. Sie versuchte zurückzulächeln. Es gelang ihr nicht. Beklommen ging sie zwischen den Menschen weiter. Fahle, graue Flammen züngelten auf der Brückenmauer und tauchten alles in Schatten. Ihr Blick glitt immer wieder verstohlen und ängstlich über die Gesichter um sie her. Sie konnte Javreen nirgends entdecken und mit jedem Schritt näherte sie sich mehr der Wand aus Nebel. Und dann sah sie die Bestie auf der Mauer hocken. Im gleichen Moment schwang der Echsenschädel mit der schmalen Schnauze auf dem geschuppten Schlangenhals herum. Schwarz glänzende Klauen gruben sich in die Steine, die unter ihrer Gewalt Risse bekamen. Augen, in denen sich jedes Licht verlor, starrten sie an. Diese Kreatur wusste, dass sie nicht hierher gehörte! Unwillkürlich machte sie einen Schritt zurück. Die Bestie breitete mit einem Schnappen ihre federlosen Schwingen aus. Ihr Schrei gellte ohrenbetäubend durch die Stille, dann stieß sie sich von ihrem Sitz auf der Mauer ab. Darejan warf sich herum und rannte in die Richtung, aus der sie gekommen war. Um sie her hatte sich ein Zischen und Wispern erhoben. Plötzlich schien der Boden unter ihren Füßen in Nebel zu ertrinken. Sie glitt aus, stürzte auf Hände und Knie, hörte die Bestie über sich kreischen, wollte einen Blick hinter sich werfen, während sie sich aufrappelte, und prallte mit voller Wucht gegen eine harte Brust. Ein ängstliches Keuchen entfuhr ihr, sie hob den Blick und schaute in ein paar silberne Dämonenaugen, die sie wütend anfunkelten. Noch ehe sie etwas sagen konnte, packte er ihre Hand, drehte sich um und ging ohne Hast mit ihr über die Brücke zurück zum Ufer. Hinter ihnen kreischte die Bestie erneut, doch als sie sich erschrocken umsehen wollte, hinderten sie ein Ruck an ihrer Hand und ein gezischtes » Nicht zurückschauen! « daran. Ohne sie loszulassen oder seinen Schritt zu beschleunigen, trat er
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