Seelenkuss
ging mit langen Schritten am Ufer entlang, ihre Hand noch immer fest in seiner.
Der Sand unter ihren Füßen war weich, doch so kalt, dass seine Kälte selbst durch das Leder seiner Stiefel drang. Ihre Schritte verursachten nicht das geringste Knirschen. Die schwarzen Wellen des Flusses spülten ohne ein Rauschen das Ufer hinauf. Er war schon mehr als einmal hier gewesen, doch die Kälte, das graue Dämmerlicht, das keine Farben zuließ, und die entsetzliche Trostlosigkeit, die jeden hier durchdrang, überraschten ihn stets aufs Neue.
Schweigend führte er Darejan am Wasser entlang. Ruhig, ohne Hast, obwohl er wusste, dass jeden Augenblick mehr von der Kälte dieser Welt den Weg hinüber in ihre lebenden Körper fand und ihren Schaden anrichtete, wie ein schleichendes, langsam wirkendes Gift. Doch sich hier mit übertriebener Hast zu bewegen, würde bedeuten, nicht nur die Aufmerksamkeit der RónAnór auf sich zu ziehen, sondern auch die von Mächten, denen selbst er nichts mehr entgegenzusetzen hatte, nachdem die Rune über seinem Herzen zerstört war.
Gelegentlich kamen sie an Männern und Frauen vorbei, die reglos am Strand oder in den Ausläufern der Felsen standen und unverwandt auf das schwarze Wasser hinausblickten. Einig waren nicht mehr als Schatten, durch die man den Sand und das Gestein sehen konnte. Andere wirkten, als seien sie noch immer aus Fleisch und Blut. Zuweilen ging eine einsame Gestalt langsam zwischen ihnen hindurch, nur um dann von einem Moment zum nächsten reglos zu verharren. Nichts an ihnen bewegte sich. Je weiter sie gingen, umso mehr dieser Gestalten säumten das Ufer. Kein Laut war zu hören.
Darejan hatte seine Hand immer fester umklammert und sich enger an ihn gedrängt.
» Wer ist das? « , fragte sie schließlich leise. Mehr als ein Flüstern wagte sie offenbar nicht.
» Man nennt sie › die Wartenden ‹ . « Ruhig ging er weiter. » Es sind Seelen, die noch nicht über die TellElâhr gehen können oder gehen wollen, weil sie noch etwas zu erledigen haben. « Auch er sprach gedämpft. Sein Blick glitt kurz über die Männer und Frauen, er vermied es jedoch, ihnen direkt in die Augen zu sehen. » Manchmal kommen die Seelen Ermordeter hierher, um auf die Seele ihres Mörders zu warten. Manche wollen nicht mehr, als ihm seine Tat vergeben, andere erhoffen sich Rache. Und dann gibt es auch solche, die hier auf die Seele eines Menschen warten, den sie lieben, dem es aber nicht erlaubt sein wird, selbst über die TellElâhr zu gehen. Sie wollen ihm Mut machen und ihm sagen, dass sie trotz allem auf ihn warten und dass er nicht vergessen ist. Und sehr, sehr selten, wenn die Liebe stark genug ist, steigen diese Seelen mit der ihrer oder ihres Liebsten in KaîRóns Boot und begleiten sie in das Reich jenseits des KaîKadin, um ihr dort bei ihren Prüfungen beizustehen und vielleicht vor dem Wächter der Seelen um Gnade für ihn oder sie zu bitten.
Manchmal stehen hier auch die Seelen von Kindern, die vor ihren Eltern durch den Schleier gerufen wurden. Wenn ihre Mütter oder Väter über dem Schmerz verzweifeln und den Verstand verlieren, oder sich sogar das Leben nehmen, warten sie manchmal hier auf sie und führen sie von hier aus über die TellElâhr. Und KaîRón, der Flusswächter, der eigentlich unbestechlich sein soll, lässt sie gewähren. « Er schaute über das Wasser. » Man sagt, dass der Fluss,– und auch der See, als der er in der Welt der Lebenden erscheint– aus den Tränen von unschuldig ermordeten Kindern entstanden ist. Vielleicht lässt er deswegen zu, dass sie jene zu sich holen, die sie lieben. «
Er spürte, wie sie ein Schaudern durchrann. » Woher wissen die Seelen, wann sie hierherkommen müssen? Und warum kommen sie ausgerechnet hierher? «
Langsam sah er sie wieder an. » Sie wissen es einfach. Und hier in der Nähe ist die Stelle, an der KaîRón mit seinem Boot darauf wartete, die Seelen jener über den KaîKadin überzusetzen, die die TellElâhr nicht überqueren dürfen, weil sie noch eine Schuld zu verbüßen haben. «
Ihre Hand in seiner zitterte. » Was erwartet sie auf der anderen Seite? «
» Kälte, ewiges Halbdunkel, Trostlosigkeit, Einsamkeit. Es ist ein wenig wie im Schleier, doch dort lauern Kreaturen und Mächte, denen man besser nicht begegnet. Dort hält der Wächter der Seelen Hof und Gericht. Nur wer es schafft, bis zu ihm zu gelangen, erwirbt sich das Recht, von ihm erneut geprüft zu werden. Er entscheidet, ob die vor ihm
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