Seelenkuss
sprang auf, packte das Schwert, warf sich auf den Rücken des Fuchses und hieb dem erschrockenen Tier die Fersen so hart in die Flanken, dass es sich aufbäumte und aus dem Stand losgaloppierte.
Einen Moment lang hockte Darejan benommen im Gras. Hinter ihrer Stirn pochte es dumpf. Da war etwas, etwas, das sie nicht festhalten konnte… und je mehr sie es versuchte, umso mehr wütete der Schmerz in ihrem Kopf. Mit zusammengebissenen Zähnen stand sie auf. Was auch immer gerade geschehen war: Sie hatte nicht vor, ihn so einfach davonlaufen zu lassen. Sie würde ihn dazu bringen, ihr zu helfen! Irgendwie!
Sie fand ihn, als die Sonne schon tief hinter den Bäumen stand. Ein paar Mal hatte sie die Hufabdrücke auf felsigem Boden oder in den Steinen des Bachbettes verloren, die Fährte aber jedes Mal nach kurzem Suchen wieder gefunden. Die meiste Zeit war sie dem Wasserlauf gefolgt, der zuweilen nicht mehr als ein dünnes Rinnsal in einer moosbewachsenen Steinfurche gewesen war, nur um dann wieder zu einem sanft plätschernden Bachlauf zu werden, in dem Fische glitzernd umherhuschten oder reglos in der Strömung standen. An einem Strauchbaum mit wilden Roonfrüchten hatte sie irgendwann ihren Hunger gestillt. Und nun tanzten die Sonnenstrahlen fast waagerecht zwischen den Baumstämmen hindurch und tauchten Blätter und Rinde noch einmal in ihr rotgoldenes Abendlicht. Er lag reglos in einer laubbedeckten Senke, hinter einem steil abfallenden Hang. Sein Arm war seltsam verdreht, halb über seinen Kopf gezogen. Etwa einen Schritt von ihm entfernt, stand das Pferd und scharrte zwischen den braunen Blättern nach Gras. Am Sattel glänzte das Schwert. Ob er vor Erschöpfung von seinem Rücken gefallen war oder ob sie gemeinsam gestürzt waren, konnte Darejan nicht sagen. Hastig schlitterte sie zwischen Wurzeln und Laub den Hang hinunter und kniete sich neben ihn. Er lag beängstigend still. Irgendwie hatte der Zügel sich bei seinem Sturz um sein Handgelenk gewickelt und verhindert, dass der Fuchs davongelaufen war. Rasch löste sie den Riemen und drehte den Verrückten auf den Rücken. Ein leises Ächzen kam über seine Lippen. Sein zerfetztes Hemd klaffte über der Brust weiter auseinander, entblößte graufahle Haut und ockerfarbene Schatten. Gesicht und Arme waren dreckverschmiert. Darejan presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, während sie rasch über seine Glieder tastete, um sich davon zu überzeugen, dass er sich nichts gebrochen hatte. Verrückt oder nicht; gefährlich und unberechenbar oder nicht– er war der Schlüssel zu den DúnAnór. Sie brauchte ihn!
Sie bemerkte die fiebrige Hitze, die von ihm ausging, als sie mit den Händen über seine Seiten strich, um nach verletzten Rippen zu suchen. Als sie seine Brust berührte, zuckte er zusammen und versuchte sich selbst in der Bewusstlosigkeit gegen sie zu wehren. Unter beruhigendem Murmeln schob sie seine Hände beiseite, zog sein Hemd in die Höhe und entdeckte die ineinanderverschlungenen Linien. Sie hielt den Atem an, während sie den Stoff weiter Richtung Schultern hob… Magie! Kunstvoll gewobene, starke Magie, die mit alten Runen in die Haut des DúnAnór gestochen worden war.
Und dann sah sie den hässlichen, tiefen Schnitt, der quer über die linke Seite der Brust lief und jene Rune, die das Zentrum dieser Magie bildete, zerstört hatte. Die Wunde war entzündet und nässte. Der grüne Schorf, der sie verkrustet hatte, war aufgebrochen. Das hier war der Grund für das Fieber. Behutsam berührte sie den Rand der rotgeschwollenen Linie. Selbst das genügte, um ihm ein Stöhnen zu entlocken. Seine Hände wollten sie fortstoßen. Darejan drückte sie sanft auf den Boden zurück. Wer auch immer ihm den Schnitt zugefügt hatte, wusste genau, was er tat.– Er hatte die Magie zerstört, die den DúnAnór eigentlich hatte schützen sollen. Und wer sonst sollte das getan haben als Seloran…
Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen, dann blickte sie wieder auf den Bewusstlosen. Seine Haut wirkte in den Schatten der Senke grau, lange, elegante Muskeln zeichnen sich unter ihrem warmen, dunkelgoldnen Braun ab, und spannte sich über scharf hervorstehende Rippen. Sie biss die Zähne zusammen, zwang sich, die leisen Kopfschmerzen nicht zu beachten. Davon zu hören, dass ihre Schwester ihn über Tage hinweg hatte hungern lassen, war etwas anderes, als die Folge ihrer Grausamkeit mit eigenen Augen zu sehen. Über seine rissigen Lippen kam ein leises
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