Seelenkuss
sollte sie es schaffen, ihn ohne die Hilfe von Noren und seinen Freunden zu dieser versteckten Ordensburg zu bringen, wenn sie noch nicht einmal wusste, wo die sich genau befand? Sie kämmte sich mit den Fingern durchs Haar und blieb in wirren Knoten hängen. Auf der Mondtänzerin hatte sie gehört, wie Noren sich mit Salden beraten hatte. Sie hatten davon gesprochen, dass es in Rokan, der Handelsstadt im Westen Nabrods, ein Archiv gab, in dem Karten von jedem Landstrich Oreádons– so abgelegen und unzugänglich er auch sein mochte– aufbewahrt wurden. Wenn es möglich war, etwas über Berge mit dem Namen GônCaidur herauszufinden, dann dort. Darejan gähnte und rieb sich die Augen. Sie wusste nicht genau, wo sie sich befanden, aber bis nach Rokan konnten es nicht mehr als drei oder vier Tage sein. Ihr Blick fiel auf den Verrückten. Er war das einzige Problem. Irgendwie musste sie ihn dazu bringen, mit ihr zu kommen. Andererseits… Er war krank und erschöpft. Solange er in diesem Zustand war, sollte es ihr gelingen, ihn irgendwie zu bändigen. Und danach… Wenn es sein musste, würde sie ihm die Hände fesseln und ihm die Riemen nicht wieder abnehmen, bis sie diese Ordensburg gefunden hatten. Allerdings würden sie so einige Aufmerksamkeit erregen, und sollte es ihm einfallen, sich ihr zu widersetzen… Ein Keuchen und unverständlich hervorgestoßene Wortfetzen erklangen von der anderen Seite des Feuers. Rasch kroch sie um die Flammen herum und kniete sie sich neben ihn. Sie brauchte kaum Kraft, um seine ziellos durch die Luft wischenden Hände einzufangen und niederzudrücken. Er stöhnte schwach, schluckte aber gehorsam, als sie den Becher mit Blauflechtentee an seinen Mund setzte. Schließlich lag er wieder still. Auch seine harten Atemzüge beruhigten sich allmählich. Darejan strich ihm ein paar wirre Strähnen aus den Augen. Zu ihrer Verblüffung lehnte er das Gesicht gegen ihre Handfläche und folgte der Berührung. Die Art, wie er im Fieberdämmern die Wange gegen ihre Hand schmiegte, brachte sie auf einen Gedanken. In seinem Schwachsinn ähnelte sein Verstand eher dem eines Tieres oder dem eines kleinen Kindes. Das Zutrauen von beiden konnte man mit Nahrung und Freundlichkeit gewinnen. In der Satteltasche des Soldlings hatte sie, neben einer Geldkatze mit ein paar Kupferdoren und einem Silberfahlen, dem Schwefelstein, der Schale und dem verbeulten Becher, auch ein Bündel mit einem Kanten Hartbrot und ein paar Streifen getrocknetes Fleisch gefunden. Ein Lächeln huschte kurz über ihre Lippen. Wenn das Fieber nachließ, würde er hungrig sein. Und kein Tier biss die Hand, die es fütterte.
Als Darejan am Morgen erwachte, lehnte sie mit der Schulter an dem erdig duftenden Holz der Dierenzeder. Der Geruch eines erloschenen Feuers hing in der Luft. Die Zweige, mit denen sie am Abend zuvor den Eingang der Wurzelgrotte verborgen hatte, waren beiseitegeschoben. Sonnenlicht flutete warm in ihr Versteck herein. Müde rieb sie sich über die Augen. Und schreckte hoch, starrte auf die Zweige, dann auf die Pferdedecke. Er war fort! Mit einem Fluch kam sie auf die Füße, duckte sich aus der Wurzelgrotte heraus und sah sich hastig um. Der Sattel lag noch immer an der gleichen Stelle wie am vergangenen Abend. Auch das Schwert war noch da. Zu ihrer Rechten hob der Fuchs gerade den Kopf und blickte zu ihr her. Gras hing an seinem Maul. Zwischen seinen Beinen hindurch sah sie die Bewegung. Rasch ging sie an dem Pferd vorbei, blieb aber nach ein paar Schritten wieder stehen.
Der Verrückte kniete am Rand des Baches, bis zur Hüfte nackt, das Hemd neben sich. Langsam trat Darejan näher, darauf bedacht, ihn nicht durch ein plötzliches Geräusch oder eine Bewegung zu erschrecken. Auch über die linke Seite seines Rückens wanden sich die Runenlinien. Etwas Langes, Schweres musste ihn mit ziemlicher Wucht quer über den Oberkörper getroffen haben; etwas, das um einiges breiter war als die flache Seite einer Schwertklinge, denn von seiner Schulter schräg abwärts bis zu seiner Taille schillerte ein blauvioletter Bluterguss. Eine Hand auf einen Stein gestützt, der eine knappe Elle vom Ufer entfernt aus dem Wasser ragte, beugte er sich vor. Seine Rückenmuskeln spannten sich. Darejan konnte sehen, dass er vor Anstrengung zitterte. Schweigend beobachtete sie, wie er einen Fetzen Stoff in den Bachlauf tunkte und dann gegen seine Brust drückte. Er senkte den Kopf, krümmte sich so weit vornüber, dass die Spitzen
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