Seelenkuss
abzulegen, nahm eine buntgewebte Wolldecke von einem schweren Sessel, der beim Feuer stand, und reichte sie ihr. » Ich komme gleich wieder. Mach es deinem Jarhaal-Freund inzwischen damit bequem. « Ehe sie auch nur nicken konnte, hatte er den Raum schon wieder verlassen. Einen Moment blickte Darejan auf die geschlossene Tür, dann breitete sie die weiche Wolle über den Verrückten– und ertappte sich dabei, wie sie ihm zart ein paar wirre Strähnen aus seiner Stirn strich. Sie zog die Hand zurück, sah einen Moment auf ihn hinunter, dann setzte sie sich in den Sessel und blickte ins Feuer.
Einige Zeit später kam Magister Joselen zurück. Er balancierte ein Tablett vor sich her, auf dem sich mehrere Becher, eine flache Schale mit Gebäck und eine Kanne, von der ein warmer, würziger Duft aufstieg, drängten. Wie gekonnt er die Tür mit dem Absatz hinter sich schloss, zeigte, dass er häufiger so beladen unterwegs war. Er stellte seine Last ab, winkte ihr, sich an den schweren Tisch zu setzen, und goss den Inhalt der Kanne in zwei der Becher. Beim dritten zögerte er, blickte zu dem Jarhaal hin und entschied offenbar, dass zwei im Moment genügten.
» Meine eigene Kräutermischung. « Auffordernd nickte er, während er Darejan einen Becher zuschob. » Ich finde, sie wirkt beruhigend. Und dabei schmeckt sie gar nicht mal so schlecht. Koste! « Ein entschuldigendes Lächeln huschte über seine Züge, als er sich ihr gegenüber auf einem Stuhl niederließ. » Ich hoffe, du trinkst deinen Tee nicht übermäßig süß. Honig habe ich in der Eile leider nicht gefunden. « Er beobachtete, wie sie einen Schluck des duftenden Getränks nahm, ehe er selbst an seinem Becher nippte. Die Hände um das Gefäß gelegt, lehnte er sich dann zurück und sah sie schweigend an. » Ich weiß, dass du keinen Grund hast, mir zu vertrauen, Mädchen, aber ich würde dir gerne helfen, wenn ich kann. Vielleicht möchtest du mir erzählen, warum du die GônCaidur suchst und was dein Jarhaal-Freund damit zu tun hat? «
» Warum? « Auch Darejan schloss ihre Hände um den Becher. Die Wärme, die von ihm ausging, hatte etwas seltsam Tröstliches.
» Warum ich dir helfen möchte oder warum mich deine Geschichte interessiert?– Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht genau. Vielleicht ist es die Neugier des Gelehrten. In einer Zeit, in der man von einem Krieg Kahels gegen die Nordreiche wispert, kommen eine junge Korun und ein Jarhaal nach Rokan, auf der Suche nach einem Ort, von dem längst vergessene Legenden sprechen. Ein Ort, von dem manche sagen, dass er selbst nur eine Legende ist. Und sie geraten ausgerechnet an den Mann, den man den Hüter der Karten nennt. « Er nippte abermals an seinem Tee, schaute einen Moment lang aus dem Fenster. » Ja, ich glaube, es ist die Neugier des Gelehrten– oder auch nur meine persönliche. « Sein Blick kehrte zu Darejan zurück. » Ich könnte es allerdings verstehen, wenn du mir nicht trauen würdest. Immerhin kennen wir uns kaum eine Stunde.– Aber selbst wenn du mir deine Gründe nicht verraten willst, werde ich dir dennoch helfen, so gut ich kann. «
Stumm starrte Darejan auf die dunkel glänzende Flüssigkeit im Inneren ihres Bechers. Magister Joselen schwieg, offensichtlich bereit, jede ihrer Entscheidungen zu akzeptieren– und er hörte schweigend zu, als sie endlich zu erzählen begann. Auch als sie schließlich geendet hatte, schwieg er noch einige Zeit. Nur das leise Gluckern, als er ihnen noch einmal Tee nachschenkte, durchbrach die Stille.
» Was du erzählst, Mädchen, klingt schlimm. Sehr schlimm. So schlimm, dass ich es kaum glauben möchte. « Er schüttelte den Kopf, verschränkte seine Finger um den Becher. » Ich muss gestehen, auch ich habe noch nie von diesen DúnAnór gehört. Aber Nekromanten hüten ihre Geheimnisse gewöhnlich gut. Deshalb erstaunt mich das nicht. « Mit einer entschiedenen Bewegung stellte er seinen Tee beiseite und stand auf. » Dass die GônCaidur im Osten liegen sollen, ist zumindest ein Anfang. Wir werden mit den Karten des östlichen Reiches beginnen. Ich werde sie dir heraufbringen, und während du auf ihnen nach den Bergen der Ewigkeit suchst, werde ich das ein oder andere nachschlagen, von dem ich glaube, dass es uns nützlich sein könnte. Lass uns an die Arbeit gehen! « Er lächelte ihr kurz zu, dann verließ er den Raum.
Die nächsten Stunden verbrachte Darejan über vergilbte Karten gebeugt, deren Linien schon so verblasst waren, dass man sie
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