Seelenkuss
Nariede ihren mit Muschelketten geschmückten Oberkörper aus den Wellen, während im Osten ein Hagaire mit zerklüfteter Steinhaut seinen grauen Leib gegen ein silbernes Gebirge stemmte, und im Norden hob ein ChaiDren eine Forderklaue gegen einen unsichtbaren Feind und breitete seine mächtigen Schwingen aus. Schwingen, die sie höher und höher trugen. Ein Schrei, der an den eines Adlers erinnerte. Kalter Wind, der ihr ins Gesicht schlug. Ein goldenes Raubvogelauge, das ihr zublinzelte. Weiches Gefieder, in dem ihre Hände versanken. Das Spiel mächtiger Muskeln … Höher! Höher!
» Er ist wunderschön, nicht wahr?– Was würde ich darum geben, nur einmal einen leibhaftig zu sehen. « Magister Joselens Stimme ließ Darejan zusammenzucken. Auch sein Blick ruhte auf dem ChaiDren. Sie blinzelte, rieb sich die Stirn.
» Ihr… Ihr meint, es gibt diese Geschöpfe wirklich? « Die Worte klangen seltsam dünn.
» Ob Sedreyan-Schlangen oder Hagaire irgendwo tatsächlich existieren, kann ich dir nicht sagen. Aber Meeresknechte berichten immer wieder, dass sie eine, zuweilen sogar mehrere Narieden bei Riffen oder auf Felsen im Meer gesehen haben wollen. Und wenn man den Jarhaal glaubt, gibt es auch die ChaiDren. Allerdings soll nur alle paar Generationen eines dieser herrlichen Geschöpfe geboren werden.– Aber noch nicht einmal die Jarhaal wissen, woher sie tatsächlich kommen. « » Die Alten sagen, dass manchmal eine besonders stolze und schöne CayAdesh-Stute die Aufmerksamkeit des Windes erregt. Er lockt sie von der Herde fort, führt sie weit in die Berge hinauf, an einen Ort, den niemals ein sterbliches Wesen betreten kann. Sucht man nach ihr, kann man sie nicht finden. Doch nach einigen Mondhälften kehrt sie mit einem Fohlen in ihrem Leib zu ihrer Herde zurück … «
» …und dieses Fohlen ist ein ChaiDren « , beendete Darejan flüsternd den Satz.
» Wie bitte? « Ein wenig verwirrt blickte der Magister sie an. Darejan fuhr auf, nicht sicher, was gerade geschehen war. Hinter ihrer Stirn nistete wieder jener bohrende Schmerz. Rasch schüttelte sie den Kopf. » Nichts. Ich… ich… Nichts. «
Der Magister musterte sie noch einmal, ehe er sich leise räusperte. » Ich hoffe, du kannst Meister Veranen die unfreundliche Begrüßung verzeihen. Wenn es nach ihm ginge, würde nichts und niemand den Karten zu nahekommen dürfen. « Mit einem Schulterzucken ließ er die Hände wieder in den Ärmeln seiner Robe verschwinden. » Bei manchen, die so alt sind, dass man noch nicht einmal mehr sagen kann, wann sie gezeichnet wurden, mag er recht haben. Aber jene, die bereits kopiert sind… « Er schüttelte den Kopf und das Lächeln kehrte auf seine Lippen zurück. » Nun, um welche Karten handelt es sich, die du dir ansehen wolltest? «
Darejan zögerte. » Ich weiß es nicht genau « , gestand sie dann. Es fiel ihr schwer, den Blick von dem ChaiDren zu lösen.
Fragend hob er eine Braue. » Aber du weißt, welchen Ort du suchst, oder? «
» Ja. «
» Gut! Wie heißt er? «
Verblüfft sah Darejan ihn an. » Wollt ihr damit sagen, ihr kennt jeden Ort, der auf den Karten verzeichnet ist? «
» Du weißt nicht, wer ich bin, nicht wahr, Mädchen? « In seinen Augen blitzte es belustigt. » Ich bin Magister Joselen Sinard Jallan Genarden. Manch einer nennt mich auch den Hüter der Karten. Es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie entsprechend ihrem Zustand aufbewahrt werden, dass Kopien der alten, vergilbten oder brüchigen gemacht werden, dass jedes noch so kleine, neue Detail auf ihnen verzeichnet wird, und alles von ihnen fernzuhalten, was ihnen Schaden kann– und zu wissen, was auf welcher Karte zu finden ist.– Also: Wie heißt der Ort, den du suchst? «
» Ich suche die GônCaidur. «
» Die GônCaidur? « Leise pfiff Magister Joselen durch die Zähne.
» Ihr habt schon einmal von diesen Bergen gehört? «
» Ja. Ja, ich habe schon einmal von den GônCaidur, den Bergen der Ewigkeit, gehört. « Er strich sich eine dunkelblonde Strähne aus dem Gesicht.
» Dann wisst ihr auch, wo sie liegen? « Plötzlich pochte Darejans Herz vor Aufregung schneller– und wurde unvermittelt schwer, als er den Kopf schüttelte.
» Niemand weiß, wo die GônCaidur liegen. Sie sind ebenso eine Legende wie die BanOseren und der SúrKadin– oder die TellElâhr. Es tut mir leid. Wer auch immer dich geschickt hat, um nach diesen Bergen zu suchen, verlangt Unmögliches von dir, Mädchen. «
» Aber… « Hilflos sah
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