Seelenlos
die rechte, in der ich die Taschenlampe hielt.
Als das Licht aufflammte, sah ich, dass wir die Ladenpassage bereits hinter uns hatten und am Ende eines Flurs standen, direkt
vor der Tür zur Nordtreppe. Bei meiner Führerin handelte es sich tatsächlich um Maryann, passend als indianische Prinzessin gekleidet.
Obgleich jede Sekunde zählte, konnte ich sie nicht so stehen lassen. Ich musste versuchen, das ihr von Datura angetane Unrecht wiedergutzumachen.
»Die Dunkelheit, die es auf dieser Welt gibt, hat deinen Schwestern Schaden zugefügt«, sagte ich. »Du bist daran nicht schuld. Aber wenn sie von hier fortgehen, willst du dann nicht für sie da sein … auf der anderen Seite?«
Sie erwiderte meinen Blick. Ihre grauen Augen waren wunderschön.
»Geh heim, Maryann Morris. Dort wartet Liebe auf dich, du musst sie nur annehmen.«
Sie blickte dorthin zurück, von wo wir gekommen waren, dann sah sie mich bange an.
»Wenn du ankommst, frag nach meiner Stormy. Du wirst es nicht bereuen. Wenn Stormy recht hat und das nächste Leben eine Art Dienst ist, dann gibt es dort niemanden, mit dem man besser große Abenteuer erleben kann, als mit ihr.«
Sie trat einen Schritt zurück.
»Geh heim«, flüsterte ich.
Sie drehte sich um und ging davon.
»Lass los. Geh heim. Verlasse dieses Dasein … um zu leben.«
Während sie verblasste, sah sie mich über die Schulter an und lächelte, und dann war sie aus dem Flur verschwunden.
Diesmal war sie wohl wirklich durch den Schleier getreten.
Ich stürzte durch die halb offen stehende Tür und rannte wie ein Irrer die Treppe hinauf.
39
Mit Iriswurzelöl parfümierte Kerzen, die mich angeblich zwangen, eine charmante, mit Gestapogeistern verkehrende junge Frau zu lieben und ihr zu gehorchen, warfen einen roten und gelben Schein an die Wände.
Draußen beherrschte das Unwetter inzwischen endgültig den Tag, sodass sich in Zimmer 1203 trotz der Kerzen ebenso viel Dunkelheit wie Licht ausbreitete. Von irgendwoher hatte sich ein Luftzug eingeschlichen, der den Charakter eines nervösen kleinen Hundes zu haben schien. Er jagte hierhin und dorthin, sodass jedem flackernden Aufleuchten ein wogender Schatten folgte.
Die Schrotflinte lag vor dem Fenster auf dem Boden, wo sie von André liegen gelassen worden war. Sie war schwerer, als ich erwartet hatte. Kaum hatte ich sie aufgehoben, als ich sie um ein Haar gleich wieder hingelegt hätte.
Es war keine jener langen Flinten, mit denen man auf die Jagd nach wilden Truthähnen, Weißschwanzgnus oder ähnlichem Getier ging. Vielmehr handelte es sich um ein kurzläufiges Modell mit Pistolengriff, das sich für die Verteidigung eines Eigenheims oder den Überfall auf einen Schnapsladen eignete.
Auch die Polizei bediente sich solcher Waffen. Vor zwei Jahren waren Wyatt Porter und ich in eine kritische Situation geraten, in der wir den drei Betreibern eines illegalen Methamphetamin-Labors und deren Hauskrokodil gegenüberstanden. Gut möglich, dass mir dabei ein Bein und beide Hoden abhandengekommen
wären, hätte der Chief nicht geschickt eine ganz ähnliche Flinte eingesetzt.
Ich hatte so ein Ding zwar noch nicht abgefeuert – genauer gesagt hatte ich mich überhaupt erst einmal im Leben einer Schusswaffe bedient –, aber immerhin gesehen, wie der Chief damit umging. Leider war das genauso sinnlos wie die Behauptung, man müsse nur sämtliche Filme mit Clint Eastwood als »Dirty Harry« sehen, um sich zu einem meisterhaften Schützen und einem Experten für moralisch einwandfreie Polizeiarbeit zu entwickeln.
Wenn ich die Waffe hierließ, würden die bedürftigen Jungs sie gegen mich verwenden. Wurde ich von den beiden Muskelpaketen in die Ecke gedrängt und versuchte nicht wenigstens, mich mit der Flinte zu verteidigen, dann war das reiner Selbstmord. Schließlich wog das, was die zwei zum Frühstück vertilgten, wahrscheinlich mehr als ich.
Deshalb stürzte ich ins Zimmer, rannte zu der Flinte, schnappte sie vom Boden und zog eine Grimasse, weil sie sich todbringend anfühlte. Nachdem ich mich zusammengerissen hatte, stellte ich mich ans Fenster und machte mich im zuckenden Schein mehrerer Blitze rasch mit dem Ding vertraut. Es war eine Pumpgun mit einem drei Patronen enthaltenden Röhrenmagazin. Eine weitere Patrone steckte schon im Lager. Ja, ein Abzug war auch vorhanden.
Ich hatte durchaus das Gefühl, die Waffe im Notfall verwenden zu können, ohne mir selbst in den Fuß zu schießen. Viel zu sagen hatte das allerdings
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