Seelenmoerder
erkunden.
Vor allem hatte sie sich jedoch darauf gefreut, mit ihm zusammen zu sein, ohne dass Arbeit oder Sex – wie umwerfend er auch sein mochte – dabei eine Rolle spielte. Doch der Anruf ihrer Schwester hatte alle ihre Pläne über den Haufen geworfen.
Sie hatte nichts mehr von Callie gehört, seit diese unangemeldet bei ihr zu Hause aufgetaucht war, und sich seitdem immer wieder besorgt gefragt, was sie wohl im Schilde führte. Callies unerwartete Einladung zum Abendessen war umso überraschender, da sie so normal wirkte.
Doch je länger sie mit ihrer Schwester zusammen war, desto weniger erschien ihr irgendetwas an Callies Verhalten normal.
»Abs, schau dir mal den Typen da drüben an. Nein, da drüben. Er durchbohrt dich regelrecht mit Blicken.«
Abbie sah kurz zu dem Mann hinüber, der am Ende des Tresens allein vor seinem Bier hockte. »Kommt mir eher so vor, als sei er ganz in seine Gedanken versunken.«
»Nein, weißt du, wie er aussieht?« Callie schnippte mit den Fingern. »Wie der ältere Bruder bei den Carsons. Unserer zweiten, nein, unserer dritten Pflegefamilie. Erinnerst du dich?«
Allerdings erinnerte sich Abbie. Die Eltern und ihr Nachwuchs waren einfache Leute gewesen, die sich im Umgang mit einem aufsässigen Teenager und dessen traumatisierter Schwester als restlos überfordert erwiesen hatten. Nachdem Callie dort ausgebüxt war, hatte man sie woanders untergebracht, allerdings waren Callie und Abbie danach nie mehr zusammen in eine Familie gegeben worden.
Doch nicht die Carsons beschäftigten Abbie momentan, sondern der manische Zustand ihrer Schwester. »Hast du deine Medikamente dabei, Callie?« Obwohl sich Callies Miene verdüsterte, fuhr sie hartnäckig fort. »Sonst rufen wir
besser Dr. Faulkner an. Du kommst schon wieder in gefährliches Fahrwasser, das musst du doch einsehen.«
»Ich muss mich weder zudröhnen, noch mir am Kopf rumdoktern lassen.« Callie drückte mit raschen, heftigen Bewegungen ihre Zigarette in dem bereits mit halb gerauchten Kippen angefüllten Aschenbecher aus. »Kann ich denn keinen netten Abend mit meiner Schwester genießen, ohne dass du gleich die Männer in den weißen Kitteln rufen willst?« Sie zündete sich die nächste Zigarette an, zog an ihr und blies eine dünne Rauchsäule aus. »Übrigens bin ich deswegen nicht mehr zu Dr. Faulkner gegangen, weil er mich andauernd angemacht hat. Absolut ätzend.« Aus schmalen Augen musterte sie Abbie. »Er wollte, dass ich es auf dem Schreibtisch mit ihm treibe und die Spielchen unseres guten alten Daddys mit ihm nachstelle. Hat behauptet, das würde mich heilen. Da bin ich gegangen, hab mir fünfhundert Dollar die Stunde gespart und mich selbst geheilt.«
Abbie hielt Callies Blick stand, obwohl ihre Kehle trocken wurde. Autoritätsfiguren oder Leute, die ihr helfen wollten, des sexuellen Missbrauchs zu bezichtigen zählte ebenfalls zu Callies selbstzerstörerischem Verhaltensmuster. Sie hatte bereits zwei Pflegeväter, einen Sozialarbeiter und einen Lehrer beschuldigt. Und jetzt Dr. Faulkner. »Wenn das stimmt, dann musst du ihn bei der Polizei anzeigen. Und bei seinem Berufsverband. Aber es ist kein Grund, die Therapie zu beenden und keine Medikamente mehr zu nehmen.«
Einen kurzen Moment lang dachte sie, ihre Worte würden einen von Callies berüchtigten Wutanfällen auslösen. Ihre Schwester holte empört Luft, während sich ihre Finger um das Glas krallten. Womöglich würde es gleich ohne jede Vorwarnung durch die Luft fliegen. Doch stattdessen prustete sie vor Lachen los.
»Du solltest dich mal hören«, sagte sie spöttisch. »Wenn das stimmt …«, äffte sie Abbie nach, ehe sie erneut an ihrer Zigarette zog und einen perfekten Rauchring in die Luft blies. »Okay, ich hab’s erfunden. Aber zweimal die Woche bei so einem Langweiler in der Praxis zu hocken bringt mir nichts. Ich weiß, was ich brauche, und was ich garantiert nicht brauche, ist einen Riesen pro Woche dafür zu verpulvern, dass ich mir Tintenkleckse ansehe. Ich hab mir überlegt, noch mal eine Ausbildung zu machen, hab ich dir das schon erzählt?« Callie ließ den Blick durch den Raum schweifen, ehe sie ein Bein über das andere schlug, wobei ihr Rock noch weiter nach oben rutschte. »Jeder braucht ein Ziel, oder? Du hast eines, obwohl ich es ehrlich gesagt nie ganz begriffen habe. Ich könnte auch eines gebrauchen. In Krankenpflege hab ich mich ganz gut geschlagen, bevor ich ausgestiegen bin, weißt du noch?«
Abbie erinnerte
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