Seelenmoerder
Festnetzanschluss. Sämtliche Anrufe aus den letzten zwei Monaten sind identifiziert. Die Rechtsmedizin hat den vorläufigen Bericht geschickt und auf Selbstmord als Todesursache erkannt. Die Fingerabdrücke auf dem Glas neben der Leiche stammten ausschließlich von ihr selbst.«
»Sie glauben also nicht, dass der Kerl wiedergekommen ist, um sein Werk zu vollenden?« Isaac Holmes richtete die Frage direkt an Abbie.
Sie schüttelte den Kopf. »Wenn der Täter ihren Tod gewollt hätte – wenn er den Tod irgendeines seiner Opfer gewollt hätte -, hätte er sie während des Übergriffs umgebracht.«
»Für meinen Geschmack hat er sich jedes Mal redlich darum bemüht«, knurrte Cantrell, worauf zustimmendes Gemurmel ertönte.
»Wenn sie nicht rechtzeitig entdeckt worden wären, hätte jedes Opfer an seinen Verletzungen sterben können. Aber jede der Frauen wurde gefunden. Und das ist ein zu großer Zufall, um nicht geplant gewesen zu sein. Einmal vielleicht, okay. Aber jedes Mal?« Sie schüttelte den Kopf. »Ob man nun meiner Theorie zustimmt oder nicht, man darf die Wahrscheinlichkeit nicht außer Acht lassen. Je mehr Opfer
er nicht umbringt, desto geplanter erscheint das Ganze. Sie überleben, weil er das will. Schließlich geht es ihm bei seinen Taten in erster Linie um Macht. Und was könnte endgültiger sein als die Macht über Leben und Tod? Es ist die ultimative Kontrolle. Aus irgendeinem Grund hat er bestimmt, dass sie weiterleben sollen. Fürs Erste.«
Ryne warf ihr einen scharfen Blick zu, und als Abbie sah, dass die anderen Detectives ebenso an ihren Lippen hingen, wählte sie ihre Worte sorgfältig. »Ich glaube nach wie vor, dass er sie perverserweise gerade deshalb leben lässt, um ihnen ein langwieriges Leiden zu bescheren, das er speziell für sie arrangiert hat. Aber er wird nicht immer Glück haben. Irgendwann geht etwas schief. Irgendwann wird er von einem Opfer entlarvt, das nicht schnell genug betäubt wurde, von einer Frau, die ihn sieht, während er mit ihr ringt. Er ist zu sehr auf der Hut, um ein Opfer am Leben zu lassen, das ihn identifizieren kann.« Sie hielt einen Moment lang inne, ehe sie weitersprach. »Oder er verliert irgendwann die Kontrolle. Und dann stirbt eine Frau.«
Die Stimmung im Raum wurde noch düsterer. Ryne ließ die mögliche Verbindung zu Karen Larsen unerwähnt, was Abbie bereits erwartet hatte. Angesichts dessen, wie Dixon an diese Information gekommen war, mussten sie extrem vorsichtig sein, bis sie von der Frau selbst weitere Anhaltspunkte bekamen.
Stattdessen konzentrierte sich Ryne auf die umfassenden Hintergrundinformationen, die mittlerweile über Juárez’ Freunde und Verwandte vorlagen. Von besonderem Interesse war die Tatsache, dass Juárez gegen den Direktor der Haftanstalt, wo er eingesessen hatte, Anzeige erstattet hatte. Seinen Angaben zufolge hatte ihn sein damaliger Zellengenosse in seinen ersten Monaten hinter Gittern regelmäßig vergewaltigt, bis er endlich verlegt worden war.
McElroy warf Abbie einen Seitenblick zu. »Was sagst du dazu, Tink? Ein Typ, den irgendein Hinterwäldler immer wieder von hinten rangenommen hat, könnte doch ein klein wenig aufgestaute Wut in sich haben, oder?«
Sie gab ihm keine Antwort, doch natürlich steckte in seinen Worten etwas Wahres. Abbie wusste nur zu gut, welche Wut sich durch diese Form des jahrelangen Missbrauchs aufbaute.
Und Wut konnte die Leute zu schrecklichen Taten verleiten.
Sie kehrte an ihren Schreibtisch zurück und hielt Ausschau nach Ryne. Er hatte ihr bei der Besprechung keine spezielle Aufgabe zugewiesen, doch sie hatten am Morgen beim Kaffee über den Fall gesprochen. Und sogar noch davor, wie ihr mit einem Schauer der Erregung wieder einfiel, nämlich als sie sich gegenseitig abgetrocknet hatten, nachdem sie träge und befriedigt zusammen geduscht hatten, bis das warme Wasser zur Neige ging.
Es war eine merkwürdige Art von Intimität, ebenso fasziniert vom Geist eines Mannes zu sein wie von der elektrisierenden Spannung, die zwischen ihnen so schnell Funken schlug. Nun ja, beinahe so fasziniert.
Obwohl sie anspruchsvoll war, mangelte es ihr nicht an Erfahrung. Allerdings hatte sie die anderen Männer in ihrem Leben ausgewählt, weil sie so leicht auf Distanz zu halten waren. Diese Distanz bedeutete jedoch, dass die leicht entflammbare sexuelle Anziehung gefehlt hatte, die sie bei Ryne fand. Und da sie ihr Leben bewusst in separate Bereiche aufgeteilt hatte, hatte sie noch nie
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